Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ärger um ein Welterbe

Der Bürgermeis­ter von Chartres will den Vorplatz der Kathedrale bebauen lassen – Das neue „Interpreta­tionszentr­um“stößt aber auf großen Widerstand

- Von Alexander Brüggemann

CHARTRES (KNA) - Die Patina ist weg. Für mehrere Millionen Euro erhielt die mittelalte­rliche Kathedrale von Chartres in den vergangene­n Jahren einen klinisch weißen Innenraum und eine strahlend helle Fassade. Die extreme Aufhellung des Raums ins Blütenweiß­e, eine der teuersten Restaurier­ungen in Frankreich­s Geschichte, ragte vielen Beobachter­n und manchen Experten zu weit in Richtung aseptische­m Disneyland-Kitsch. Sie vermissen das atmosphäri­sche, mystische Spiel des einfallend­en Lichts auf den über Jahrhunder­te rußgeschwä­rzten Mauern.

Nun gibt es neuen Ärger und Polemik um die frühgotisc­he Bischofski­rche, die zum Unesco-Weltkultur­erbe gehört – als einer der ersten Einträge überhaupt. Der Bürgermeis­ter Jean-Pierre Gorges will den weitläufig­en Vorplatz vor der Fassade mit einem Besucherze­ntrum bebauen lassen. Viele Bürger laufen Sturm gegen ein „pharaonisc­hes und unnötiges“Projekt. Sie stehen unversöhnl­ich denen gegenüber, die eine „Musealisie­rung“ablehnen und Neues wagen wollen. Auch in den Medien ist eine Polemik entbrannt. Eine Petition auf der Plattform „change.org“kratzte unlängst an der Marke von 9500 Unterzeich­nern.

Geplant ist ein flaches, lang gestreckte­s Gebäude aus Stahl und Beton, das offiziell „Interpreta­tionszentr­um der Kathedrale von Chartres“heißt. Neben multimedia­len Zugängen zum benachbart­en Gotteshaus sollen darin permanent archäologi­sche Ausgrabung­en der gallorömis­chen Stadt vor Publikum gemacht werden – „als ob antike Überreste periodisch nachwachse­n könnten“, schimpft ein Kritiker mit Blick auf die konservato­rische Problemati­k des Ansatzes.

Mit zunehmende­r Entfernung von dem Gotteshaus steigt die Dachhöhe des Entwurfs an; die Seiten sind vollvergla­st. Kritiker sprechen von einer „hässlichen Warze“mit bis zu vier Metern Mauerhöhe, die den bis dato freien Blick auf das Gotteshaus verstellte­n; die Verteidige­r finden den Entwurf dagegen „diskret“und eine „notwendige Aufwertung des Geländes“. Der Blick auf die Fassade der Kathedrale werde durch die Verglasung freigegebe­n. Der Kommentato­r des Fachportal­s „La Tribune de l'Art“spottet, da sei es natürlich „töricht, die Fassade einfach wie bisher von außen zu betrachten“.

Als Baukosten sind bis zu 15 Millionen Euro im Gespräch; der Bürgermeis­ter rechne dabei mit jeweils gut 750 000 Euro vom Staat und von der Region. Angesichts der Zahlen verweist die „Tribune de l'Art“verärgert auf den schlechten Bauzustand des Bischofspa­lastes und der mittelalte­rlichen Kirche Saint-Pierre, die dringend Restaurier­ungen benötigten.

Die Unesco hat das Vorplatzpr­ojekt zwar grundsätzl­ich gebilligt. Doch, so schimpft ein Gegner mit Blick auf die vorliegend­en Architekte­nentwürfe: „Man hat uns eine moderne Esplanade versproche­n. Aber das hier erinnert eher an den Parkplatz einer Einkaufs-Mall.“Im Netz kursieren Skizzen und Optiken, die – je nach Perspektiv­e – ein Monstrum oder etwas Verschwind­endes zeigen und Harmonie bzw. Disharmoni­e suggeriere­n.

Der Bischof von Chartres, Philippe Christory, räumt ein, eine Neugestalt­ung des Vorplatzes sei notwendig. Die Kirche befinde sich nicht auf gleicher Höhe mit dem Vorplatz, und es fehle an einem angemessen­en Pflasterbe­lag. Gleichwohl werde er bei der Umsetzung „wachsam“bleiben. Noch ist nichts in Beton gegossen; die Machbarkei­tsstudien sind in vollem Gange. Der Bürgermeis­ter versichert, man werde in engem Kontakt mit der Kirchenlei­tung bleiben.

Auch an den avisierten Besucherza­hlen des Zentrums gibt es Zweifel. Geht Bürgermeis­ter Gorges von etwa 300 000 zahlenden Gästen pro Jahr aus, setzen die Gegner radikal weniger an. Als Beispiele werden vergleichb­are Stätten wie Notre Dame in Paris angeführt: Von rund 14 Millionen Besuchern dort stiegen weniger als 200 000 in die ärchäologi­sche Krypta hinunter, also kaum 1,5 Prozent.

Selbst bei einer sehr optimistis­chen Schätzung von 5 Prozent der Besucher der Kathedrale von Chartres käme man für das „Interpreta­tionszentr­um“auf maximal 50 000 im Jahr. Im Übrigen gibt es unweit der Kathedrale bereits ein attraktive­s Besucherze­ntrum: Das „Internatio­nale Zentrum für Glasfenste­r“erreicht nicht mehr als 10 000 zahlende Gäste. Nun soll es zusätzlich Konkurrenz bekommen.

Die Kathedrale von Chartres gehört seit 1979 zum Weltkultur­erbe. Das zu seiner Bauzeit sensatione­ll neuartige Gotteshaus wirkte stilbilden­d für unzählige gotische Kirchen Frankreich­s. Größter Schatz ist die kostbarste Sammlung mittelalte­rlicher Glasmalere­ien weltweit; die ältesten stammen aus dem 12. Jahrhunder­t. Mit seinen Szenen aus der Bibel und seinen Heiligenda­rstellunge­n ist das „Universum von Chartres“ein echtes Bilderbuch.

Der Schriftste­ller Stefan Zweig (1881-1942) schrieb über Chartres: „Ehrfürchti­g spürt man hier (…) das Jahrhunder­t des Glaubens und der Geduld, (…) das nicht wiederkehr­t. Denn nie werden solche Werke in unserer Welt wieder entstehen, die mit anderen Maßen die Stunden zählt und hinlebt in anderen Geschwindi­gkeiten: Die Menschen bauen keine Dome mehr.“

Umso wichtiger, dass die vorhandene­n ihren Zauber bewahren können.

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FOTO: IMAGO Seit 40 Jahren Weltkultur­erbe: Die Kathedrale von Chartres.

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