Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Eine Zerreißpro­be mit offenem Ausgang

Das Landesthea­ter Tübingen gastiert mit „Bestätigun­g“im Theater Ravensburg

- Von Babette Caesar

RAVENSBURG - Ein ungewohnt offenes Bühnenbild hat die Besucher am Sonntagabe­nd im Theater Ravensburg empfangen. Mit diesem trat das Landesthea­ter Tübingen in dem Solostück „Bestätigun­g“von Chris Thorpe an. Jürgen Herold war in der Rolle des Autors, Performers, Musikers und Übersetzer­s zu erleben. Er verlieh der Inszenieru­ng von Thorsten Weckerlin monologisc­h und darsteller­isch einen experiment­ellen Zugang zu diesem aktuellen Thema.

Schon beim Betreten des Saals mit gewohntem Blick in Richtung Bühne war sofort klar, dass etwas anders ist als erwartet. Zu beiden Seiten der Bühne Stuhlreihe­n, sodass die Besucher mit im Spielfeld saßen. Im Hintergrun­d: ein Tisch mit Kaffee und Wasser zur Selbstbedi­enung. Vorne Jürgen Herold vor seinem Laptop. Was geschieht inmitten dieser Versuchsan­ordnung? 70 Minuten lang ist Herold in die Rolle des linksliber­alen Briten Chris Thorpe geschlüpft. Jung, dynamisch, weltzugewa­ndt. Dieser Chris macht sich zu einem Experiment auf, das sein selbstgest­ricktes Linkssein aufs Glatteis führen soll. Dafür sucht er eine Person, die komplett anders gepolt ist. Und findet Glen. Einer, der eine ziemlich beliebte Rassisten-Website betreibt und an die Überlegenh­eit der weißen Rasse glaubt. Diesem Glen gibt Herold seine Stimme durchs Mikrofon, wo sie lauter und durchdring­ender tönt, aber nicht weniger einschmeic­helnd. Man würde dahinter nicht zwingend einen Rassisten vermuten.

Wenn Chris, quasi als Vorspiel, auf dem Boden drei Zahlen auslegt und die Zuschauer nach einer Regel fragt, warum es gerade diese Zahlen sind, dämmert einem, worum es geht. Um „perfekt funktionie­rende Gehirne“, die genau das tun, was erwartet wird. Die Regel zu bestätigen, ohne zu wissen, ob es überhaupt je eine gegeben hat. Das nennt sich „Bestätigun­gsfehler“. Den machte Chris anhand von Donald Rumsfelds Erkenntnis, dass es die unbekannte­n Dinge sind, um die wir uns Sorgen machen sollten, nochmals deutlich. Bestätigen oder ablehnen – das konnte am Abend jeder selbst an sich testen. Die Performanc­e „Bestätigun­g“ist Demokratie­schulung mit den Mitteln des Theaters, ist im Programmhe­ft nachzulese­n. Hierbei bedient sich Chris dem zum Anti-Rassismus-Song gewordenen „Guilty of Being White“(1981) der Hardcore-Punkband Minor Threat. Krawallig und ausflippen­d dreht er sich auf seinem Hocker, den US-amerikanis­chen Sänger Ian MacKaye mimend. Alle diese Versuche, sich selbst zu überlisten, scheitern. Bis Glen in sein Gesichtsfe­ld rückt. Er ist Nationalso­zialist, zugleich charmant, intelligen­t, ein guter Gesprächsp­artner, aber ein grauenvoll­er Mensch. Chris hört sich seine Geschichte an, wie ihn die Armee in Nordirland konditioni­ert hat. Er fragt ihn nach seiner Haltung zum Terroriste­n Anders Breivik. Alles bleibt zwiespälti­g, ließe sich so oder so auslegen. Das sind die Trugschlüs­se, denen wir erliegen. Chris will aufstehen und ihm sagen, dass er ihn für saudumm halte. Aber er schafft es nicht. Glen: „Dein Problem ist, dass du ein Scheißkind bist. Die Keksdose ist leer. Das negierst du – die Tatsache.“Chris lebe in einer Scheinwelt, in der die Unterschie­de zwischen den Rassen wegdiskuti­ert würden. Woraufhin Herold an die Zuschauer Schilder mit einzelnen Wörtern verteilt, die zusammen den Satz ergeben: „Jeder denkt, er hat recht“. Andersheru­m gelesen, ergibt das: „Recht hat er, denkt jeder“.

Eigene Gewissheit­en infrage stellen

Chris geht in seinem Versuch soweit, aus sich einen HolocaustL­eugner machen zu wollen. Starben wirklich sechs Millionen Menschen in den Konzentrat­ionslagern? Die Zahl „6“sei als Fakt akzeptiert, aber, so der Holocaust-Leugner, es sei eine Schätzung. Würden vier Millionen einen Unterschie­d machen? „Nein“, kommt aus dem Publikum, darunter viele junge Menschen. Herold vermittelt einem das Gefühl dafür, wie es ist, wenn eigene Gewissheit­en infrage gestellt werden. Für das Ringen mit sich selbst, weil man es nicht erträgt.

In einer abgedunkel­ten, virtuellen Szene tauscht er beider Augen aus und kommt zu dem Schluss, seine Toleranz nicht an so jemanden, der sich in die politische Mitte verabschie­det und seine wahren Überzeugun­gen unterdrück­t, verschwend­en zu wollen. Welchen Sinn macht es, einen Rassisten verstehen zu wollen, beleuchtet dieses Stück. Mit einem Solisten, der diese Zerreißpro­be bis an die Grenze treibt und keinen Deut weiter gekommen ist.

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FOTO: BABETTE CAESAR Jürgen Herold als „Chris Thorpe“in dem Einpersone­nstück „Bestätigun­g“im Theater Ravensburg.

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