Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Narzisstisch, aber nicht gestört
Psychiatrische Gutachterin sieht keine Erfolgschance für eine Therapie – Angeklagter kämpft mit den Tränen
Angeklagter im Pizzaboten-Prozess ist voll schuldfähig.
RAVENSBURG - Narzisstisch, schnell kränkbar, leicht erregbar, aber nicht psychisch krank: So charakterisiert die Psychiaterin den 38-Jährigen, der einen Ravensburger Pizzaboten im September 2018 mit einer Waffe bedroht und vermutlich ausgeraubt hatte, weil er sich an der Größe der gelieferten Ware störte. Vor dem Landgericht Ravensburg muss er sich außerdem für einen Fall von schwerer Körperverletzung verantworten, weil er bereits im Februar 2018 den mosernden Kunden einer befreundeten Drogendealerin zusammengeschlagen und erheblich verletzt hatte. Unklar ist nach wie vor, ob und wie viel Geld er seinen Opfern abgenommen hat.
Nachdem der Angeklagte anfangs geschwiegen hatte, geht er zum Ende des Prozesses etwas mehr aus sich heraus. Der in der Türkei geborene Junge wurde bereits im Alter von drei Jahren von einer deutschen Pflegefamilie aufgenommen, später adoptiert und wuchs in einem bürgerlichen Milieu auf. Allerdings soll ihn sein Adoptivvater mehrfach brutal geschlagen haben, auch auf den Kopf, bis er das Bewusstsein verlor, so der Beschuldigte. Später wurde bei dem Angeklagten eine Epilepsie diagnostiziert, weshalb er einen Schwerbehindertenausweis hat. Schon mit 12, 13 Jahren experimentierte er mit Drogen.
Er schaffte den Hauptschulabschluss, brach aber eine Handwerkerlehre kurz vor dem Ende ab, weil er zum ersten Mal in Haft kam und die Gesellenprüfung nicht mehr ablegen konnte. Später arbeitete er zeitweise als Gabelstaplerfahrer und als Türsteher. Gewaltdelikte und Beschaffungskriminalität kennzeichnen sein Leben. Von Heroin und Alkohol kam er zwar weg, bis zuletzt konsumierte er allerdings Amphetamine, Kokain und Cannabis. Beim Vorfall mit dem Pizzaboten habe er ebenfalls unter dem Einfluss von Rauschmitteln gestanden. Die Strategie der Verteidigung zielt offenbar darauf ab, ihn in eine Langzeittherapie zu schicken statt ins Gefängnis. Daher war das Gutachten der Psychiaterin ernüchternd. Da der Angeklagte seit langer Zeit regelmäßig Drogen konsumiert habe, sei er daran gewöhnt gewesen. Sie hätten seine Denkfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat folglich nicht eingeschränkt. „Bei einem Alkoholiker würde man sagen: Er war noch unterhalb der Schwelle, leicht berauscht zu sein.“
Dem Täter fehle jegliche Einsicht in die eigene Schuld, weshalb die bisherigen Therapien keinen Erfolg gebracht hätten. „Er neigt zur Selbstüberschätzung und Missachtung der geltenden Normen“, sagte die Gutachterin. Seine Frustationstoleranz sei gering, er sei leicht kränkbar, werde schnell aggressiv aus kleinem oder nichtigem Anlass. Daher sei er auch ausgeflippt, als er nicht die Pizza in der bestellten Familiengröße bekam, sondern eine kleinere Portion. Ausschließen kann die Sachverständige jedoch einen Hirnschaden, eine Intelligenzminderung oder eine Psychose. Zudem sei er trotz der leichten Reizbarkeit in der Lage, sein Verhalten zu steuern. Daher habe er zunächst seine Schreckschusspistole geholt, bevor er dem Pizzaboten nachgestellt sei, um sein Geld zurückzufordern.
Aufgrund des jahrelangen Suchtmittelkonsums und seiner Persönlichkeit sei er an den Rand der Gesellschaft abgestürzt und schließlich im Württemberger Hof gelandet. Eine weitere Therapie sei wegen der mangelnden Einsichtsfähigkeit in das eigene Verhalten ohne große Erfolgsaussicht, weitere Straftaten zur Beschaffung von Drogen seien wahrscheinlich.
Der Angeklagte muss sichtlich mit sich kämpfen, als er die für ihn negative Prognose hört. Erst wird er aggressiv und greift die Sachverständige an: „Sie träumen sich da was zusammen, was nicht stimmt!“Obdachlos sei er nur ein Jahr lang gewesen, danach habe er ganz normal bei seiner Freundin gewohnt. Später hält er sich ein weißes Blatt vors Gesicht. Damit man seine Tränen nicht sieht.
„Sie träumen sich da was zusammen, was nicht stimmt!“Der Angeklagte zur Psychiaterin
Der Prozess wird am Freitag, 1. März, fortgesetzt.