Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Bei Erdogan und der AfD gibt sich Cem Özdemir kompromisslos und werteorientiert
Der 200. Leutkircher „Talk im Bock“beschert den 400 Gästen ein Wechselspiel von sehr ernst bis ganz lustig
LEUTKIRCH - Unbeugsam in seiner Kritik an der AfD oder am türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdog an. Auch ein humoriger Erzähler. Cem Özdemir, beim 200. Leutkircher „Talk im Bock“Gast von Moderator Karl-Anton Maucher, beherrscht die Wechselwirkung von ganz ernst bis sehr lustig. Erst recht, wenn der 54Jährige aus Bad Urach damit kokettiert, anatolische Wurzeln zu haben und dennoch auf Verlangen waschecht schwäbeln zu können.
„Ich bedauere, dass von dem früheren Erdogan nichts mehr übrig ist.“Cem Özdemir verrät gegen Ende der gut zwei Stunden, mit welchem Satz er vor gut einem Jahr beim Staatsbankett für den türkischen Präsidenten den Händedruck mit dem von ihm so hart kritisierten starken Mann in der Heimat seiner Eltern abgeschlossen hat. Özdemir räumt ein, er habe angesichts davor schon vor allem im Internet gegen ihn gerichteter Anfeindungen gründlich überlegt, ob er diesem Gast gegenübertreten soll. Er bezog seine Frau und die beiden Kinder mit ein, bis klar war, „das will ich machen“. Nur wollen? Nein. Er sah es als Muss an zu zeigen, „dass das Angstregime Erdogans hier bei uns in Deutschland nichts verloren hat“. Eine Folge seiner konsequenten Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen in der Türkei der Gegenwart sehen auch die 400 Gäste in der Aula der Otl-Aicher-Realschule. Cem Özdemir reist mit Personenschutz durchs Land, seit er sich auch dort für die deutsche Werteordnung einsetzt, wo bürgerliche Rechte oder die Pressefreiheit nichts zählen.
Mit 18 Jahren hat Cem Özdemir den deutschen Pass erhalten. Schon damals, erste Annäherungen an die noch junge grüne Partei hatten Appetit auf mehr gemacht, erkannte der Arbeitersohn, dass es allen Einsatz wert ist, die Prinzipien der deutschen Verfassung und des Rechtsstaates hochzuhalten. Das spannt den Bogen zur aktuellen Lage in Deutschland und dazu, weshalb Cem Özdemir für eine hoch emotionale Auseinandersetzung im Bundestag mit der AfD-Fraktion für die „Rede des Jahres 2018“ausgezeichnet worden ist. „Da hatte sich viel angesammelt“, erklärt Özdemir, der auch in Leutkirch darüber zürnt, wie anmaßend sich aus seiner Sicht die AfD als einzige Hüterin des Deutschen aufführe. Nun differenziert Özdemir sehr wohl zwischen Wählern und Funktionären der Partei, die wie Bernd Höcke „die Verbrechen der Nationalsozialisten relativieren“. Diese rote Linie dürfe nicht überschritten werden. Deshalb auch seine Entscheidung, die AfD konkret zu stellen. „Wir müssen zeigen, wofür die 85 Prozent stehen, die nicht AfD gewählt haben.“
Auch an diesem Abend bleibt der Rückblick auf die gescheiterten Verhandlungen, nach der Bundestagswahl 2017 eine Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen zu bilden, nicht aus. Cem Özdemir war schon als möglicher Außenminister gehandelt worden. Er räumt ein, sich in Gedankenspielen sogar schon „bübisch“ darauf gefreut zu haben, bei einer seiner ersten Auslandsreisen die Türkei anzusteuern. In Leutkirch gibt er zu, dass er aber vor allem wegen der Sachthemen über den Ausgang der wochenlangen Gespräche schwer enttäuscht gewesen sei. „Ich glaube, wir hätten eine bessere Regierung abgegeben.“Versteift hat sich der Mann mit dem Prinzip „erst das Land, dann die Partei und ganz zum Schluss die Person“demnach auf ein hohes Regierungsamt nicht.
„Alles kam auf mich zu“
Karriereplanungen können ja auch scheitern. Der Mann, der im Bundestag sitzt, der schon dem Europaparlament angehörte und zehn Jahre lang den männlichen Part an der Spitze der Grünen abgab, geht jedenfalls nach außen hin gefasst damit um, aktuell nur Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Verkehr und Digitalisierung zu sein. „Alles, was ich geworden bin, kam auf mich zu.“Bei so viel Bescheidenheit klatschen die Leute. Ganz und gar nicht will Özdemir eine Debatte darüber aufkommen lassen, ob er sich als Nachfolgekandidat für Winfried Kretschmann, den grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, sieht: „Ich wünsche mir, dass er es noch einmal macht.“Er definiert seine Rolle wie schon in der Vergangenheit vielmehr damit, für Kretschmanns Überzeugungen im Rahmen des Möglichen auf Bundesebene und vor allem in der Bundestagsfraktion zu werben.
Cem Özdemir hat unter anderem seinen Vater damit vor den Kopf gestoßen, schon als Jugendlicher Vegetarier zu werden. Den 2013 gar nicht gut angekommenen Einsatz vieler Grüner für einen sogenannten Veggie-Day bezeichnet er dennoch bis in die Gegenwart als falsches Signal: „Politiker sollen nicht vorschreiben, wie Menschen leben oder was sie tun. Politiker müssen vielmehr die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass vieles möglich ist.“
Der Talk endet mit Özdemirs dazu passender Grundsatzerklärung zum politischen Alltag: „Der Kompromiss wird bei uns zu Unrecht denunziert.“Seine Kompromisslosigkeit schließt das nicht aus. Die Saalspende von 2436 Euro will Özdemir zu gleichen Teilen den Vesperkirchen in Ravensburg und Stuttgart zukommen lassen.