Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Höher hinaus gegen Wohnungsnot
Auf Parkhäusern und Discountern könnten Hunderttausende neue Wohnungen entstehen
BERLIN - Viel Grün, viel Holz und schöne Freiflächen unter freiem Himmel. Die Kita des Hamburger FröbelHauses strahlt Wärme aus. Da stört der Nachbar unten wenig. Die Kita wurde auf dem Dach eines Parkhauses errichtet. Ähnliche Beispiele gibt es auch in Nürnberg oder Stuttgart. Auch abseits der Metropolen stößt die Idee auf Interesse: In Ravensburg etwa macht sich die Fraktion der „Bürger für Ravensburg“im Gemeinderat für den Wohnungsbau auf Discountergeschäften von Aldi und Lidl stark.
Verdichtung nennen es Experten, wenn bisher freie Flächen in den Städten zusätzlich genutzt werden. Nach Berechnungen der TU Darmstadt liegen auf den Dächern von Supermärkten, Parkhäusern, Büro- und Wohngebäuden noch gewaltige Potenziale. „2,3 bis 2,7 Millionen Wohnungen könnten in Deutschland neu entstehen, wenn die vorhandenen innerstädtischen Baupotenziale intelligent und konsequent genutzt werden“, sagt Studienleiter Karsten Tichelmann.
Die Forscher haben sich Deutschlands Städte aus der Luft angeschaut und reichlich passende Flächen für neue Wohnungen gefunden. Allein in der Hauptstadt Berlin beziffern sie das Potenzial auf rund 150 000. Die Studie ist für das von der Wohnungswirtschaft finanzierte Pestel-Institut entstanden. Deren Fachleute verweisen auf das gravierende Defizit an Wohnungen in den Ballungsgebieten. Nach Angaben des Institutsleiters Matthias Günther fehlten Ende des vergangenen Jahres gut eine Million Wohnungen bundesweit. Er sieht vor allem zwei Gründe für den Mangel. Einerseits seien in diesem Jahrzehnt deutlich weniger neue Wohnungen gebaut worden als in der Bedarfsanalyse des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforderung (BBSR) angenommen. Zweiten lag die Prognose des Amts bei der Zuwanderung deutlich daneben. Das BBSR ging von gut zwei Millionen Menschen aus, tatsächlich zählte Deutschland in diesem Zeitraum 4,2 Millionen Neubürger.
Eine übermäßige Verdichtung der Städte befürchtet Architekturprofessor Tichelmann nicht. Die Einwohnerdichte sei bei den zehn als am lebenswertesten geltenden Städten, etwa Wien oder Genf, doppelt so hoch wie in Berlin, erläutert der Experte. Mit fast 4100 Einwohner pro Quadratkilometer ist die deutsche Hauptstadt im weltweiten Vergleich eher dünn besiedelt. Wichtig sei zudem, dass nicht nur neue Wohnungen entstehen, sondern auch bei der notwendigen sozialen Infrastruktur nachgerüstet werde. Dazu gehören beispielsweise Kitas und Schulen.
In der Wirtschaft stößt die Idee schon länger auf Interesse. So stockt der Discounter Aldi manche Filialen auf und wird so zum Wohnungsunternehmen. Allein in Berlin will Aldi so mehr als 2000 Wohnungen bauen. Kommunale Gesellschaften bauen neue Dachgeschosse auf die Flachdächer von Altneubauten. Der frühere Sitz des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in Köln wurde umgebaut, mit Balkonen versehen und dient nun als Wohngebäude mit 132 Appartements. Über die Nachfrage nach derlei Neubauten macht sich Tichelmann keine Sorgen. „Es werden Premiumflächen sein“, sagt er. Sie hätten einen schönen Blick über die Stadt und reichlich Sonne.
Ökonomisch werden sich die Investitionen in eine Verdichtung nach Ansicht der Experten ebenfalls lohnen. Denn es entfallen erst einmal hohe Kosten für das Bauland und den Anschluss an die Ver- und Entsorgung. Beides ist ja bei bestehenden Gebäuden bereits bezahlt worden. Entsprechend günstig könnten die Mieten sein. Von billigem Wohnraum geht der Forscher allerdings aufgrund der guten Lagen nicht aus. Dieser könne jedoch anderswo frei werden, wenn Mieter preisgünstige Wohnungen zugunsten schönerer aufgeben.
Baurechtliche Bremsen
Auch wenn es schon Beispiele für die Verdichtung der Städte gibt, kann von einer Welle noch lange nicht die Rede sein. Denn oft fehlen auch die rechtlichen Voraussetzungen dafür noch. So sieht die Hauptgeschäftsführerin des Branchenverbands Wohnungswirtschaft, dem auch die öffentlichen Wohnungsunternehmen angehören, die Kommunen in der Pflicht. So sei mehr Flexibilität bei der zulässigen Nutzfläche pro Grundstück nötig, sagt Esser. Bei Aufstockungen wird dieser Wert oft überschritten, wofür die Bauherren einen Ausgleich leisten müssen. Diese Art Strafe hält die Wirtschaft für eine Bremse beim Ausbau.
Von Abstandsregelungen bis zur vorgeschriebenen Traufhöhe sieht der Verband noch weiteren Veränderungsbedarf, wenn es mit der Verdichtung richtig losgehen soll. Aber auch eine staatliche Förderung hält Esser für angemessen. Dafür schwebt ihr eine auf vier bis fünf Prozent erhöhte Abschreibung auf die Investitionen vor. Bisher dürfen die Bauherren zwei Prozent des Wertes jährlich abschreiben. Auch eine Investitionszulage in Höhe von 15 Prozent hält der Verband für wirksam, um diese Art Wohnungsbau zu fördern.