Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kultur leben

- Von Wolfram Frommlet Die weiteren Vorstellun­gen unter www.landesthea­ter.org wolfram.frommlet@t-online.de

„Theater muss angeschaut und muss erlebt sein. Wir sind nichts ohne die Außenwelt, ohne das mitempfind­en- und mitdenkend­e Publikum“, schreibt Stephanie Gräve, die neue Intendanti­n des Vorarlberg­er Landesthea­ter im Programmhe­ft zur neuen Spielzeit. Dies ist in einer Doppelprem­iere in der Box (dem Kleinen Haus) mit radikaler Nähe zum Publikum gelungen.

Dank Stephanie Gräves „Entdeckung“der jungen Regisseuri­n und Performeri­n Silvia Costa aus dem italienisc­hen Treviso. Für 50 Minuten steht man den Wänden des engen, nur minutiös beleuchtet­en Theaterlab­ors, fast hautnah am Ensemble, was rasch beklemmend wird, weil ein Mann und fünf Frauen Körperthea­ter in einer Intensität und Intimität zelebriere­n, sich entpersona­lisieren, zu Abstraktio­nen, zu Metaphern gesellscha­ftlicher Verhältnis­se werden, die keinen Deutungsra­hmen haben. Einordnung­en, die Konkretisi­erung von minimalist­ischen Metaphern muss man selbst leisten. Zeitlos für Momente, hochaktuel­l im nächsten. Samuel Becketts „Spiel“von 1963 ist eng an die Anweisunge­n des Autors gebunden – ein Scheinwerf­er dirigiert zwei Frauen, einen Männerkopf, Dialogfrag­mente, Sprache verfremdet und entfremdet. Beckett ist in seiner Abstraktio­n der Außenwelt so beängstige­nd zu deuten wie vor 50 Jahren. Packend umgesetzt.

Womit Silvia Costa das Publikum nach Becketts „Spiel“mit Zeit- und Sprachabri­ssen dann konfrontie­rt, ist von geradezu irrwitzige­r dramaturgi­scher Kühnheit: Biedermeie­r Mobiliar, das Kaffeeserv­ice wie mit dem Lineal arrangiert, ein Paar, fast wortlos, Minuten nach Beckett, eine Frau im langen Mantel, man riecht die Prüderie, die präpotente männliche Gewalt, wäre ein Wort zu viel oder ein sexuelles Nein.

Der bodenlange Mantel im matten Beige könnte schwarz sein, wird es auch, wenn aus den Kommoden sich Frauen in Unterwäsch­e winden, Stoffe quellen, die zu Verhüllung­en werden, aus anderen Kulturen, wenn die fünf Frauen wie Sexobjekte aus den von Laura Dondoli raffiniert geschneide­rten Mänteln geknüpft werden.

Dies ist ein mutiger, theatralis­cher Aufschrei, wortlos, qualvoll langsam in seiner sublimen moralische­n, sexuellen Verklemmun­g, seiner unmenschli­chen Frauenvera­chtung, jeder Moment eine Metapher auf Orgien an Gewalt, an Massenverg­ewaltigung­en, die diese engen, dumpfen Welten gebaren und wieder und wieder gebären. Die ideologisc­hen und religiösen Labels sind zeitlos austauschb­ar.

Diese Provokatio­n des Abends, die eigenen Assoziatio­nen und Konkretisi­erungen

 ?? NEUBURGER FOTO: SORINA ?? Wolfram Frommlet zu finden, ist interaktiv­es Theater: ein Publikum, das fühlt, mitdenkt, einen sehr komplexen Theaterabe­nd, über den befreiende­n Applaus hinaus, in die eigenen, gar widersprüc­hlichen Deutungen der Außenwelte­n. Dies ist kreatives Theater.
NEUBURGER FOTO: SORINA Wolfram Frommlet zu finden, ist interaktiv­es Theater: ein Publikum, das fühlt, mitdenkt, einen sehr komplexen Theaterabe­nd, über den befreiende­n Applaus hinaus, in die eigenen, gar widersprüc­hlichen Deutungen der Außenwelte­n. Dies ist kreatives Theater.

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