Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Zehn Jahre nach Winnenden
Erinnerungen an den Amoklauf von Winnenden am 11. März 2009 – Klaus Hinderer war der Überbringer schlechter Nachrichten
BERLIN (AFP) - Der Amoklauf von Winnenden jährt sich zum zehnten Mal. Ein 17-Jähriger war am 11. März 2009 in seine ehemalige Schule gestürmt und hatte dort neun Jugendliche und drei Lehrerinnen erschossen. Auf der Flucht tötete er drei weitere Menschen, bevor er sich selbst erschoss. Zum Jahrestag fordern Grüne und Polizei eine Verschärfung des Waffenrechts.
WINNENDEN - Der Täter ist auf der Flucht. Es ist dieses Detail, das den späten Vormittag des 11. März 2009 noch unerträglicher macht, als er ohnehin schon ist. Seit kurz nach 10 Uhr ist der Öffentlichkeit bekannt, dass es an der Albertville-Realschule in Winnenden einen Amoklauf gegeben hat. Die ersten Meldungen schockieren: mindestens ein Toter, vermutlich zwei. Bald sind zehn Tote bestätigt. Und: Der Amokläufer ist weg. Irgendwo. Oder anders formuliert: Er könnte überall sein. Also auch an der Ampelkreuzung voller Autos am Ortseingang von Winnenden, dieser so beschaulichen Kleinstadt im Kreis Waiblingen bei Stuttgart. Eigentlich könnte jederzeit ein junger Mann mit geladener Pistole auftauchen, hier über die Straße laufen und weiter um sich schießen. Diese oder ähnliche Gedanken streifen womöglich jeden einmal, der an diesem Tag in Winnenden unterwegs ist. Mitten im Chaos.
Es beginnt an diesem dunkelsten Tag um 9.30 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt betritt ein bewaffneter ExSchüler die Albertville-Realschule. In den kommenden Stunden wird er 112 Schüsse abgeben. Und 15 Menschen töten. Danach sich selbst. Er geht durch die Gänge, schießt in mehrere Klassenzimmer. Acht Schülerinnen, ein Schüler und drei Lehrerinnen überleben den Angriff nicht. Wenige Minuten später sind die ersten Polizisten vor Ort, gehen sofort in die Schule, begegnen dem Amokläufer, der daraufhin flüchtet. Auf dem angrenzenden Gelände einer psychiatrischen Klinik erschießt er einen im Garten arbeitenden Angestellten. Er geht durch das Gebäude und nimmt vor dem Eingang der Klinik einen in seinem Auto sitzenden Mann als Geisel. Und zwingt ihn zu einer Irrfahrt.
Greifbare Nervosität
Wenig später ist das Schulzentrum in Winnenden weiträumig abgesperrt – zu spät, wie sich bald herausstellen wird. Wer dorthin gelangen will, kommt nicht weit. Die Straßensperren sind engmaschig. In kurzen Abständen blickt jeder, der sie passieren will, in den Lauf eines Maschinengewehrs. Die Nervosität ist greifbar. Wie viele Polizisten schon zum Tatort gerufen und in Winnenden angekommen sind, lässt sich in diesem Moment nur erahnen. Jedenfalls wimmelt es nur so von Streifenwagen, von Blaulicht, von Uniformierten. Am Ende des Tages wird von 800 Polizisten die Rede sein, die in und um Winnenden im Einsatz waren.
Das Gelände um das wenige Hundert Meter vom Schulzentrum entfernte Wunnebad ist der Ort, an dem das Entsetzen erstmals richtig greifbar wird. Hierhin lotst die Polizei die vielen Angehörigen, die verängstigt nach ihren Kindern fragen. Hierhin werden auch die vielen Hundert Schüler aus dem Schulzentrum geführt. Möglichst schnell weg vom Tatort. Eine Mutter steht erleichtert mit ihrem Handy am Straßenrand. Sie hat vor wenigen Minuten ihre Tochter erreicht, die in einer anderen Schule unterrichtet wird. „Es geht ihr gut“, sagt die Mutter, und: „Ich bin so erleichtert.“ Nicht alle Eltern werden an diesem Tag ihre Kinder wohlbehalten in die Arme schließen können. Die Ungewissheit zehrt an den Beteiligten. Weit aufgerissene Augen überall. Menschen funktionieren, Menschen resignieren, Menschen weinen.
Alle Kräfte in Bewegung
Die letzten Meter zur Schule geht es nur noch zu Fuß. Von Polizisten begleitet. Auf eigene Faust darf sich hier niemand bewegen. Schon von Weitem ist ein Spezialeinsatzkommando (SEK) auf dem Dach der Schule zu sehen. Direkt vor dem Haupteingang sieht es aus, als wäre eine ganze Armee versammelt. Und mittendrin: Polizeisprecher Klaus Hinderer.
Sein Tag beginnt ganz unaufgeregt bei einer Dienstversammlung im nur wenige Kilometer entfernten Urbach. Über den Polizeifunk bekommt er unmittelbar nach dem ersten Notruf um 9.33 Uhr mit, was in Winnenden passiert ist. „Da war von Verletzten die Rede, von Schüssen“, erinnert sich Hinderer zehn Jahre danach am Tatort. Die Versammlung wird sofort aufgelöst, alle verfügbaren Kräfte in Bewegung gesetzt. Auf der Fahrt erfährt der Polizeisprecher weitere Details. Vor allem auch: Der Täter ist flüchtig – eine „dynamische Lage“. Denn: „Er hätte überall sein können. Auch auf einem der Schuldächer in der direkten Umgebung“, sagt Hinderer. Diese Ungewissheit wird die kommenden Stunden prägen – obwohl der Täter schon längst außerhalb des Sperrgürtels der Polizei ist und Winnenden verlassen hat. Doch das weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Daher schwebt die Ungewissheit über dem Platz vor der Schule. „Es gab zwar immer wieder Meldungen, dass er irgendwo gesehen wurde. Das hat aber alles nicht gestimmt. Aufgetaucht ist er erst in Wendlingen“, sagt Hinderer.
An der Schule angekommen, wird der Polizeisprecher der Überbringer schlechter Nachrichten. Ihm hilft, dass er vor Jahren bereits eine Geiselnahme erlebt hatte. So hat er eine Vorstellung, wie groß das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Informationen an diesem Tag werden könnte. Die Tat selbst lässt er zunächst nicht an sich heran. „Ich habe nicht großartig nachdenken können“, erinnert er sich. Sehr wohl aber weiß er nach und nach, was sich in der Schule abgespielt hat. Auch den Namen des möglichen Täters erfährt er bald.
In regelmäßigen Abständen gibt Hinderer neue Informationen heraus. Immer wieder muss er die Zahl der Toten nach oben korrigieren, die „furchtbare, traurige Wahrheit“bekannt geben. Und sich Gerüchten stellen. Eines am späten Vormittag lautet, dass der Täter gefasst sei. Das kann der Polizeisprecher sofort ausschließen. Der Verdacht, der Täter könnte es womöglich gezielt auf Mädchen und Frauen abgesehen haben, bleibt zunächst eine Möglichkeit, erhärtet sich aber nie. Auch weil das Motiv des Amokläufers nie endgültig geklärt werden kann.
Endgültige Klarheit über den kompletten Tathergang herrscht erst, als der Amokläufer tot ist – dreieinhalb Stunden nachdem er die Albertville-Realschule betreten hatte. Nach seiner Flucht aus Winnenden ist er mit seiner Geisel mehr als zwei Stunden im Großraum Stuttgart unterwegs. Dabei kommt er unter anderem durch Tübingen und Nürtingen. Die Irrfahrt endet an einer Kontrollstelle der Polizei in Wendlingen. Die Geisel kann fliehen. Der Amokläufer erschießt auf der Suche nach einem Ersatzwagen in einem Autohaus zwei weitere Menschen. Zuletzt richtet er die Waffe gegen sich selbst.
Die Erinnerungen sind klar
Die Nachricht vom Tod des Amokläufers, vom Ende der Gefahr, erreicht die Menschen im Schulzentrum in Winnenden kurz vor einer eilig angesetzten Pressekonferenz in einer Turnhalle mit dem damaligen Ministerpräsidenten Günther Oettinger, der per Hubschrauber zum Tatort gebracht wird. Die Öffentlichkeit bekommt so anstatt eines ersten Statements das ganze Ausmaß präsentiert: 15 Opfer sind zu beklagen, dazu zwölf Verletzte.
Klaus Hinderer steht zu diesem Zeitpunkt sein schwerster Gang noch bevor: Erst am Nachmittag betritt er den Tatort, geht in die Klassenräume, sieht die toten Schülerinnen, den toten Schüler und die toten Lehrerinnen. Erst jetzt hat er Zeit dazu. Er will genau wissen, wovon er spricht, wenn er gefragt wird, was sich in der Schule zugetragen hat. Noch zehn Jahre später vollzieht er ganz genau nach, wie die Wege im Schulgebäude waren. Er erinnert sich an die vielen grausamen Eindrücke auf kleinstem Raum. Besonders belastend ist für ihn der Anblick der zwei toten Lehrerinnen, die der Amokläufer kaltblütig im Gang erschoss. „Das war brutal bedrückend“, sagt Hinderer. Noch Jahre später sieht er sich diesen Gang entlanglaufen. Die Bilder lassen ihn auch nicht los, als er vor drei Jahren in Pension geht. Zu viel ist an diesem langen, dem dunkelsten Tag passiert.