Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
In der Freihandelsfalle
Kurz vor dem Brexit hat Großbritannien nur sechs eigenständige Handelsabkommen abgeschlossen
LONDON - Drei Wochen vor dem geplanten Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (EU) steigt die Panik in der britischen Regierung. Dem zuständigen Brexit-Ministerium Dexeu zufolge werden von 161 EU-Vereinbarungen mit Drittstaaten im April höchstens 64 bilateral weitergelten. Besonders schlecht sieht die Bilanz des Außenhandelsministeriums DIT aus: Minister Liam Fox und sein Team haben sechs Handelsabkommen mit kleineren Nationen abgeschlossen. Dabei hatte der prominente Brexit-Befürworter Fox gern behauptet, sämtliche 40 bestehende EU-Verträge mit 71 Nationen würden am 30. März „eine Sekunde nach Mitternacht“in Kraft treten.
Bitterkeit empfinden schon jetzt viele Unternehmen und ihre Lobbyverbände über die unzureichenden Vorkehrungen der Regierung für den Chaos-Brexit, der Ende des Monats droht. Nach Umfragen des Industrieverbands VBI machen sich fast 90 Prozent der Mitgliedsunternehmen Sorgen über möglicherweise lange Verzögerungen beim Warenumschlag an den Landesgrenzen. „Die Brexit-Blockade verursacht heute schon Schaden und wird morgen für eine geschwächte Wirtschaft sorgen“, prophezeit CBI-Chefökonom Rain Newton-Smith.
Die offiziellen Regierungsdaten sprechen eine deutliche Sprache. Bis Ende der Woche waren 43 internationale Vereinbarungen – Überflugsrechte für die USA und Kanada, Weinhandel mit Australien, Export von Tieren mit Neuseeland – getroffen. In den kommenden drei Wochen sollen 21 weitere Verträge unterzeichnet werden. 97 Abkommen der EU werden definitiv nicht rechtzeitig unter Dach und Fach sein.
Bei fertig ausgehandelten Handelsabkommen macht das zuständige Außenhandelsministerium eine äußerst schlechte Figur. Auf der Habenseite sind Verträge mit Chile, der Schweiz und Israel ebenso verbucht wie Palästina, die Färöer-Inseln und die Gemeinschaft südöstlicher Staaten Afrikas ESA, darunter Mauritius und Zimbabwe. Hingegen fehlen Weltmarktgiganten wie Korea, Kanada, Japan oder die USA. „Engagement ongoing“, „laufende Verhandlungen“, lautet der häufige Eintrag auf der Website des Ministeriums. Dass es rechtzeitig zu unterschriftsreifen Verträgen mit Japan und der Türkei kommt, wird sogar ausdrücklich ausgeschlossen.
Unter normalen Umständen müsste der zuständige Minister wohl seinen Hut nehmen. DIT-Chef Fox aber ist nicht nur ein langjähriger politischer Verbündeter der Premierministerin, sondern der 57-Jährige gehört als einziger der Troika von prominenten Brexit-Befürwortern, die May im Juli 2016 ins Amt berief, noch dem Kabinett an – David Davis (Brexit-Minister) und Boris Johnson (Außenminister) traten im vergangenen Sommer zurück. Die Entlassung von Fox kann sich die Regierungschefin also schon deshalb nicht leisten.
Der mit der EU vereinbarte Austrittsvertrag sieht eine Übergangsfrist bis Ende 2020 vor, in der bis auf Großbritanniens Anwesenheit in Brüssel alles beim Alten bliebe. Das Unterhaus ließ das Paket aus Vertrag und politischer Zukunftserklärung von Premierministerin Theresa May krachend durchfallen, auch bei der für Dienstag geplanten neuerlichen Abstimmung ist keine Mehrheit in Sicht. Dann droht zum Monatsende der Chaos-Brexit („No-Deal-Brexit“). Am Freitag gab Premierministerin Theresa May zu verstehen, sie werde der EU die Schuld in die Schuhe schieben: „Jetzt ist der Moment zu handeln“, appellierte sie an die 27 Staats- und Regierungschefs der EU. Wenn das Scheitern der Regierungspläne zu Bitterkeit führe, sekundierte Außenminister Jeremy Hunt, „wird man sagen: Die EU hat Fehler gemacht.“
Verheerende Folge eines „No Deals“
Wie wenig Vertrauen der BrexitKurs der Regierung bei den eigenen Spitzenbeamten hervorruft, macht eine delikate Personalie deutlich. Das Brexit-Ministerium kündigte diese Woche die Ruhestandsversetzung seines 57-jährigen Amtsleiters, Staatssekretär Philip Rycroft, zum Monatsende an. Der Termin könnte brisanter nicht sein: Der letzte Arbeitstag des aus Schottland nach London pendelnden Spitzenbeamten ist gleichzeitig der letzte Tag von Großbritanniens mehr als 46-jähriger EU-Mitgliedschaft. Rycrofts Ministerium hat vergangenen Monat in einer Studie deutlich gemacht, welch verheerende Wirkung ein „No-DealBrexit“für die britische Wirtschaft hätte. Über die kommenden 15 Jahre würde das Wachstum um bis zu neun Prozent geringer ausfallen als bei normalen politischen Verhältnissen. Kurzfristig rechnen die Planer mit „stark reduzierter Kapazität“auf der Schiffsroute Calais-Dover, auf der 30 Prozent der eingeführten Waren vom Kontinent auf die Insel gelangen. Die Folge wären erhebliche Preisanstiege besonders für frische Lebensmittel.
Wie die Katastrophe noch abgewendet werden kann? Premierministerin Theresa May habe keine Reisepläne, hieß es am Freitag aus der Downing Street, dem Regierungssitz Mays in London, zu Gerüchten aus Brüssel, May plane kurzfristig einen Besuch bei EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Hingegen müssen sich wichtige Staats- und Regierungschefs auf dem Kontinent wohl weiterhin auf Bittanrufe aus London gefaßt machen.