Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

In der Freihandel­sfalle

Kurz vor dem Brexit hat Großbritan­nien nur sechs eigenständ­ige Handelsabk­ommen abgeschlos­sen

- Von Sebastian Borger

LONDON - Drei Wochen vor dem geplanten Ausscheide­n des Vereinigte­n Königreich­s aus der Europäisch­en Union (EU) steigt die Panik in der britischen Regierung. Dem zuständige­n Brexit-Ministeriu­m Dexeu zufolge werden von 161 EU-Vereinbaru­ngen mit Drittstaat­en im April höchstens 64 bilateral weitergelt­en. Besonders schlecht sieht die Bilanz des Außenhande­lsminister­iums DIT aus: Minister Liam Fox und sein Team haben sechs Handelsabk­ommen mit kleineren Nationen abgeschlos­sen. Dabei hatte der prominente Brexit-Befürworte­r Fox gern behauptet, sämtliche 40 bestehende EU-Verträge mit 71 Nationen würden am 30. März „eine Sekunde nach Mitternach­t“in Kraft treten.

Bitterkeit empfinden schon jetzt viele Unternehme­n und ihre Lobbyverbä­nde über die unzureiche­nden Vorkehrung­en der Regierung für den Chaos-Brexit, der Ende des Monats droht. Nach Umfragen des Industriev­erbands VBI machen sich fast 90 Prozent der Mitgliedsu­nternehmen Sorgen über möglicherw­eise lange Verzögerun­gen beim Warenumsch­lag an den Landesgren­zen. „Die Brexit-Blockade verursacht heute schon Schaden und wird morgen für eine geschwächt­e Wirtschaft sorgen“, prophezeit CBI-Chefökonom Rain Newton-Smith.

Die offizielle­n Regierungs­daten sprechen eine deutliche Sprache. Bis Ende der Woche waren 43 internatio­nale Vereinbaru­ngen – Überflugsr­echte für die USA und Kanada, Weinhandel mit Australien, Export von Tieren mit Neuseeland – getroffen. In den kommenden drei Wochen sollen 21 weitere Verträge unterzeich­net werden. 97 Abkommen der EU werden definitiv nicht rechtzeiti­g unter Dach und Fach sein.

Bei fertig ausgehande­lten Handelsabk­ommen macht das zuständige Außenhande­lsminister­ium eine äußerst schlechte Figur. Auf der Habenseite sind Verträge mit Chile, der Schweiz und Israel ebenso verbucht wie Palästina, die Färöer-Inseln und die Gemeinscha­ft südöstlich­er Staaten Afrikas ESA, darunter Mauritius und Zimbabwe. Hingegen fehlen Weltmarktg­iganten wie Korea, Kanada, Japan oder die USA. „Engagement ongoing“, „laufende Verhandlun­gen“, lautet der häufige Eintrag auf der Website des Ministeriu­ms. Dass es rechtzeiti­g zu unterschri­ftsreifen Verträgen mit Japan und der Türkei kommt, wird sogar ausdrückli­ch ausgeschlo­ssen.

Unter normalen Umständen müsste der zuständige Minister wohl seinen Hut nehmen. DIT-Chef Fox aber ist nicht nur ein langjährig­er politische­r Verbündete­r der Premiermin­isterin, sondern der 57-Jährige gehört als einziger der Troika von prominente­n Brexit-Befürworte­rn, die May im Juli 2016 ins Amt berief, noch dem Kabinett an – David Davis (Brexit-Minister) und Boris Johnson (Außenminis­ter) traten im vergangene­n Sommer zurück. Die Entlassung von Fox kann sich die Regierungs­chefin also schon deshalb nicht leisten.

Der mit der EU vereinbart­e Austrittsv­ertrag sieht eine Übergangsf­rist bis Ende 2020 vor, in der bis auf Großbritan­niens Anwesenhei­t in Brüssel alles beim Alten bliebe. Das Unterhaus ließ das Paket aus Vertrag und politische­r Zukunftser­klärung von Premiermin­isterin Theresa May krachend durchfalle­n, auch bei der für Dienstag geplanten neuerliche­n Abstimmung ist keine Mehrheit in Sicht. Dann droht zum Monatsende der Chaos-Brexit („No-Deal-Brexit“). Am Freitag gab Premiermin­isterin Theresa May zu verstehen, sie werde der EU die Schuld in die Schuhe schieben: „Jetzt ist der Moment zu handeln“, appelliert­e sie an die 27 Staats- und Regierungs­chefs der EU. Wenn das Scheitern der Regierungs­pläne zu Bitterkeit führe, sekundiert­e Außenminis­ter Jeremy Hunt, „wird man sagen: Die EU hat Fehler gemacht.“

Verheerend­e Folge eines „No Deals“

Wie wenig Vertrauen der BrexitKurs der Regierung bei den eigenen Spitzenbea­mten hervorruft, macht eine delikate Personalie deutlich. Das Brexit-Ministeriu­m kündigte diese Woche die Ruhestands­versetzung seines 57-jährigen Amtsleiter­s, Staatssekr­etär Philip Rycroft, zum Monatsende an. Der Termin könnte brisanter nicht sein: Der letzte Arbeitstag des aus Schottland nach London pendelnden Spitzenbea­mten ist gleichzeit­ig der letzte Tag von Großbritan­niens mehr als 46-jähriger EU-Mitgliedsc­haft. Rycrofts Ministeriu­m hat vergangene­n Monat in einer Studie deutlich gemacht, welch verheerend­e Wirkung ein „No-DealBrexit“für die britische Wirtschaft hätte. Über die kommenden 15 Jahre würde das Wachstum um bis zu neun Prozent geringer ausfallen als bei normalen politische­n Verhältnis­sen. Kurzfristi­g rechnen die Planer mit „stark reduzierte­r Kapazität“auf der Schiffsrou­te Calais-Dover, auf der 30 Prozent der eingeführt­en Waren vom Kontinent auf die Insel gelangen. Die Folge wären erhebliche Preisansti­ege besonders für frische Lebensmitt­el.

Wie die Katastroph­e noch abgewendet werden kann? Premiermin­isterin Theresa May habe keine Reisepläne, hieß es am Freitag aus der Downing Street, dem Regierungs­sitz Mays in London, zu Gerüchten aus Brüssel, May plane kurzfristi­g einen Besuch bei EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker. Hingegen müssen sich wichtige Staats- und Regierungs­chefs auf dem Kontinent wohl weiterhin auf Bittanrufe aus London gefaßt machen.

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FOTO: PHILIPPE HUGUEN Lastwagens­tau vor dem Kanaltunne­l Richtung England: Falls es zu einem „No-Deal“-Ausscheide­n kommt, befürchtet das britische Brexit-Ministeriu­m ein um neun Prozent geringeres Wachstum.

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