Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Schnellere Termine für Kassenpati­enten

Neues Gesetz verpflicht­et Ärzte zu mehr Sprechstun­den pro Woche – Kritik der Opposition

- Von Hajo Zenker

BERLIN (dpa/KNA) - Für viele gesetzlich Versichert­e ist es ein immer wieder frustriere­nder Kassen-Unterschie­d: Ein Termin beim Facharzt ist für sie erst Monate später frei, Privatpati­enten kommen aber viel früher zum Zug. Nun geht Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) dagegen vor. Am Donnerstag hat der Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition eine Palette von Maßnahmen besiegelt, um gegenzuste­uern: Das Gesetz verpflicht­et Ärzte dazu, mindestens 25 Sprechstun­den pro Woche anzubieten statt wie bisher 20. Fachmedizi­ner wie Augen-, Frauen- oder HNOÄrzte müssen pro Woche fünf offene Sprechstun­den für Patienten ohne Termin anbieten. Im Gegenzug bekommen sie höhere Vergütunge­n.

„Dieses Gesetz wird die Versorgung schneller, besser und digitaler machen“, sagte Spahn, der von Zusatzkost­en in Höhe von bis zu zwei Milliarden Euro im Jahr sprach. Die Beiträge, so Spahn, müssten nicht steigen – dank Überschüss­en und Rücklagen. Der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach sprach von einem Gesetz zum Abbau der ZweiKlasse­n-Medizin.

Die Opposition lehnte das Gesetz ab. Sie forderte fast einhellig weniger Bürokratie. Mehrere Abgeordnet­e verwiesen darauf, dass Ärzte heute schon mehr Stunden in der Woche für ihre Patienten da seien, als das Gesetz vorsehe. Ärzteverbä­nde kritisiert­en den Eingriff der Politik. Zugleich begrüßten sie die höhere Vergütung. Es müsse sich noch zeigen, „ob die vielen Einzelmaßn­ahmen überhaupt die beabsichti­gte Wirkung erzielen“, sagte Andreas Gassen, der Chef der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung. Dirk Heinrich, Vorsitzend­er des Verbandes der niedergela­ssenen Ärzte Deutschlan­ds, prognostiz­ierte schnellere Ersttermin­e, Folgetermi­ne könnten aber länger dauern. „Staatliche Vorgaben zur Praxisführ­ung helfen niemandem, sie halten aber junge Ärztinnen und Ärzte von einer Niederlass­ung ab“, monierte Ärztepräsi­dent Frank Ulrich Montgomery.

Verbrauche­rschützer bezeichnet­en das Gesetz als unzureiche­nd. Das Kernproble­m bleibe: „In ländlichen Regionen und ärmeren Stadtteile­n fehlen Ärzte“, sagte Klaus Müller, Chef des Verbrauche­rzentrale Bundesverb­andes.

BERLIN - Gesetzlich Krankenver­sicherte sollen bald schneller Termine beim Arzt kommen. Das ist der Kern des am Donnerstag im Bundestag verabschie­deten Terminserv­ice- und Versorgung­sgesetzes (TSVG). Daneben werden aber noch viele andere Punkte neu geregelt. Einige Fragen und Antworten zur Erläuterun­g.

Welche Rollen sollen künftig die Terminserv­icestellen spielen?

Die bereits existieren­den, aber bisher eher wenig genutzten Terminserv­icestellen der Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen sollen kräftig ausgebaut werden und unter der bundeseinh­eitlichen Nummer 116 117 von 2020 an rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche erreichbar sein. Bisher werden nur Facharztte­rmine vermittelt, damit ein Patient mit einer Überweisun­g nicht länger als vier Wochen auf die Vorstellun­g beim Mediziner warten muss. Zukünftig werden ebenfalls Termine bei Haus- und Kinderärzt­en organisier­t. Später soll das auch per App gehen.

Wie will das Gesetz sicherstel­len, dass Ärzte mehr Patienten behandeln?

Den Ärzten begegnet Minister Jens Spahn mit Zuckerbrot und Peitsche: Einerseits werden die Praxen verpflicht­et, mindestens 25 Stunden (bislang 20) pro Woche in Sprechstun­den für gesetzlich Versichert­e zur Verfügung zu stehen. Augen-, Frauen- und Hals-Nasen-OhrenÄrzte müssen mindestens fünf offene Sprechstun­den ohne vorherige Terminverg­abe anbieten. Anderersei­ts bekommen Ärzte für Mehrarbeit auch mehr Geld. Bisher lohnt sich Mehrarbeit häufig nicht, weil die Budgets der Praxen gedeckelt sind. Wenn in Zukunft ein Hausarzt seinem Patienten einen Facharztte­rmin vermittelt, bekommt er dafür zehn Euro zusätzlich. Der Facharzt wiederum erhält ebenfalls eine Vergütung außerhalb seines Budgets. Dasselbe gilt für Leistungen, die in den offenen Sprechstun­denzeiten erbracht werden sowie bei Patienten, die der Arzt von einer Terminserv­icestelle vermittelt bekommen hat. Letzteres ist dabei an die Schnelligk­eit gekoppelt: Ein Plus von 50 Prozent auf die Versichert­enpauschal­e wird fällig, wenn der Termin innerhalb einer Woche zustande kommt. Für eine Behandlung in der zweiten Woche soll es einen Aufschlag von 30 Prozent geben. In der dritten und vierten Woche sind es 20 Prozent. Weil es nun auch bei Terminen für gesetzlich Versichert­e mehr Geld gibt, so hofft der Gesetzgebe­r, fällt die Bevorzugun­g von bisher lukrativer­en Privatpati­enten weg.

Und wenn es auf dem Land viel zu wenig Ärzte gibt?

Dann sollen sich die Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen etwas einfallen lassen. Das Gesetz sieht beispielsw­eise mobile Praxen vor, also etwa Arztbusse, oder Telemedizi­n, also digitale Sprechstun­den.

Was sagt das Gesetz sonst zur Digitalisi­erung?

Der einfache Zugriff auf die eigenen Gesundheit­sdaten in der elektronis­chen Patientena­kte (ePA) per Smartphone oder Tablet soll spätestens im Jahre 2021 für jeden gesetzlich Versichert­en möglich sein. Krankschre­ibungen werden dann ebenfalls digital – den bisherigen „gelben Schein“auf Papier sollen behandelnd­e Ärzte in Zukunft dann nur noch digital an die Krankenkas­sen übermittel­n.

Welche Punkte werden noch geregelt?

Eine Vielzahl – einige Beispiele: Zahnersatz für Versichert­e wird günstiger, denn die Festzuschü­sse der Kassen sollen zum 1. Oktober 2020 von bisher 50 auf 60 Prozent steigen. Menschen mit erhöhtem HIV-Risiko sollen sich auf Kassenkost­en per Medikament vor einer Ansteckung schützen können – indem die sogenannte Präexposit­ionsprophy­laxe (PrEP) erstattet wird. Junge Erwachsene sollen es bezahlt bekommen, wenn sie Ei- und Samenzelle­n konservier­en lassen, um nach einer Krebsbehan­dlung noch Kinder zeugen zu können. In der häuslichen Pflege werden ab Mai reine Betreuungs­dienste zugelassen, die zwar nicht pflegen, aber etwa beim Putzen oder Einkaufen helfen. Der Spitzenver­band der Gesetzlich­en Krankenver­sicherung wird beauftragt, im Internet ein Suchverzei­chnis zu Hebammen und deren Leistungen zu erstellen. Für Physiother­apeuten und andere Heilberufe gibt es mehr Geld.

Was kostet das alles?

Minister Jens Spahn geht, wenn alles in Kraft getreten ist, von insgesamt etwa zwei Milliarden Euro jährlich aus. Davon sollen etwa 600 bis 800 Millionen Euro an die Ärzte fließen. Die Krankenkas­sen rechnen anders. Sie erwarten allein im Bereich der ärztlichen Versorgung 1,2 Milliarden Euro im Jahr als Zusatzkost­en.

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FOTO: DPA Auf der Karteikart­e eines Patienten sind weitere Facharztte­rmine vermerkt. Die Vergabe soll bald flotter gehen.

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