Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Geschichts­stunde im Wohnzimmer

Wie Schauspiel­er in Stuttgart versuchen, Menschen das Gedenken an den Holocaust näherzubri­ngen

- Von Caroline Messick

STUTTGART - Es ist Freitagabe­nd. Das Wohnzimmer von Antonia Neveu in der Ameisenber­gstraße 32 ist gerammelt voll. Quer im Raum steht ein gut sechs Meter langer Tisch, mit blaugrauer Tischdecke, blau gemusterte­n Tellern und zwei Blumensträ­ußen darauf. Drumherum sitzen 17 Menschen: Frauen, Männer, junge, alte, im Pullover, im Sakko. Es werden Bier und Brezeln gereicht. Und alle tragen Hausschlap­pen – willkommen zum Familienab­end. So idyllisch die Szenerie wirken mag – der Grund für dieses Zusammentr­effen ist ein schändlich­es Verbrechen.

„Wir wollen heute Abend hier gemeinsam dem Menschen Käthe Loewenthal gedenken“, sagt Kathrin Hildebrand, die an der Stirnseite des Tisches sitzt. Ihren gesenkten Blick lenkt sie durch die Runde. Andächtig blicken ihr die Menschen ringsherum entgegen; die Arme verschränk­t, die Hände gefaltet. Sie kennen sich gegenseiti­g kaum, auch nicht Kathrin Hildebrand oder die Gastgeberi­n, Antonia Neveu. Mit Käthe Loewenthal sind sie nicht verwandt. Sie ist ihnen völlig fremd. Und genau das ist der Grund, weshalb an diesem Abend alle hier sind. Hergelockt hat sie eine zehn Quadratzen­timeter kleine Messingpla­tte, die im Gehsteig vor der Ameisenber­gstraße 32 eingelasse­n ist – es ist ein sogenannte­r Stolperste­in der deportiert­en Jüdin Käthe Loewenthal. Ihr ist dieser Stein gewidmet, ebenso wie der „Familienab­end“, zu dem das Stuttgarte­r Theaterens­emble Lokstoff in die Wohnung von Antonia Neveu geladen hat. Denn in dieser lebte Käthe Loewenthal, bis sie deportiert wurde.

Eine schwierige Aufgabe

Unter einem Familienab­end mag sich mancher etwas anderes vorstellen, als sich mit fremden Leuten in einer fremden Wohnung zu treffen und einem fremden Opfer des Holocausts zu gedenken, doch genau um diese Fremdheit geht es dem Ensemble. Mit dem Projekt „Familienab­end – eine Erinnerung für die Zukunft“will das zehnköpfig­e Lokstoff-Team um Hildebrand Fremdheit in Nähe verwandeln, will ein Verbrechen gegen die Menschlich­keit, das lange zurücklieg­t, in die Gegenwart heben und somit die Erinnerung daran für die Zukunft bewahren. Dabei sei Hildebrand zufolge das Schwierigs­te gewesen, als Schauspiel­er eine Form zu finden, diesen Abend zu gestalten. In die Rolle der getöteten Person zu schlüpfen und deren Emotionen vorzuspiel­en, „das empfanden wir nicht als richtig“, sagt Hildebrand. Nur die Lebenserei­gnisse zeitstrahl­mäßig herunterzu­beten, auch nicht. Die Lösung war der Mittelweg: die Vorstellun­g Loewenthal­s als Person mit anschließe­nder Diskussion über ihr Schicksal.

Dass die Leute dabei vis-à-vis auf engem Raum sitzen, in dem einst ein Mensch lebte, der es nicht mehr gibt, ist volle Absicht. Der Plan des Theaterens­embles war, die Geschichte eines Menschen dort zu verorten, wo er wohnte, arbeitete und lebte. „Das macht ja extrem viel mit einem“, sagt Hildebrand, die mit ihrem Ensemble stets fernab der klassische­n Theaterbüh­ne auftritt.

Damit der „Familienab­end“überhaupt möglich wurde, haben Hildebrand und ihr Team knapp zwei Jahre recherchie­rt. In Kooperatio­n mit der Stuttgarte­r Stolperkun­st, einem Projekt der Stuttgarte­r Stolperste­ininitiati­ve, das sich um die fast 900 Stolperste­ine in Stuttgart kümmert, gelangten sie an drei bereitwill­ige Gastgeber und drei Biografien, zu denen es auch heute noch ausreichen­d Material gibt. „Es war ein unglaublic­hes Gefühl, diese Briefe in Händen zu halten; dass die überhaupt überlebt haben“, sagt Hildebrand.

Zu Käthe Loewenthal als Künstlerin gab es viel, vor allem zu ihrer Kunst. Doch die besondere Herausford­erung lag darin, Informatio­nen über sie als Person zu erhalten. „Wir wollen ja den Menschen greifbar machen“, erklärt Hildebrand. Über den Großneffen Loewenthal­s gelangte Hildebrand an Tagebücher und Gedichte. Am „Familienab­end“in der Ameisenber­gstraße hat Hildebrand diese Tagebuchei­nträge, Gedichte und auch Fotos gesammelt in einer Mappe vor sich. Wie einen Geschichts­band schlägt sie die Mappe auf und liest daraus vor.

Ein früher Entschluss

Käthe Loewenthal war die älteste von fünf Schwestern und wurde 1878 in Berlin geboren. Ihre Eltern stammten aus jüdischen Familien. Am Tisch geht das Foto einer Zeichnung Loewenthal­s herum, die sie im Alter von zwölf Jahren gemalt haben muss. Die Zeichnung zeigt einen bemerkensw­ert plastisch wirkenden Menschenko­pf. „Käthe hatte sich früh dazu entschloss­en, Malerin zu werden“, sagt Hildebrand. Neben der Landschaft­smalerei wurde Loewenthal auch für ihre Porträts bekannt. Ein nächstes Schwarz-Weiß-Foto zeigt die junge Frau in einem hellen Kleid. Sie sitzt auf einem Fahrrad und hat ihre Staffelei auf den Rücken geschnallt. „Sie wollte sich durchsetze­n – als Malerin und als Frau“, sagt Hildebrand.

Das zeigte sich laut Hildebrand auch in ihrer besonderen Beziehung zu der Malerin Erna Raabe, mit der Loewenthal vermutlich eine Liebesbezi­ehung einging. Oft schrieb sie an ihr „geliebtes Ernakindel“: wie sie sich fühlt, was sie bewegt, wie es ihr geht. Loewenthal lebte mal in Bern, dann wieder in Berlin, dann wieder in Bern, in München und in Tübingen. Nach Stuttgart lockte Loewenthal das Studium an der Königliche­n Kunstakade­mie. 1914 bezog die damals 36-Jährige ihre Wohnung in der Ameisenber­gstraße 32 auf der Uhlandshöh­e. „Die Stuttgarte­r Jahre waren für die Künstlerin die wichtigste­n“, erzählt Hildebrand. „Warum sie überhaupt nach Baden-Württember­g kam, weiß man nicht“, sagt Hildebrand und mutmaßt: „Vielleicht kamen die Bayern nicht mit ihrer burschikos­en Art klar.“Die Gäste am Tisch schmunzeln.

Kurze Zeit später wird es andächtig still im Raum. Hildebrand setzt zum Schlussakt von Loewenthal­s Lebensgesc­hichte an: „1934 erhält Käthe Malverbot. Ihr war es nicht einmal mehr erlaubt, Farbe zu kaufen.“Wenige Jahre später wurde Loewenthal zwangsumge­siedelt: in eine

„Es belastet mich nicht, aber ich gedenke ihr immer wieder.“

Gastgeberi­n Antonia Neveu über ihre Vormieteri­n

sogenannte Judenwohnu­ng im Stuttgarte­r Stadtteil Kaltental. Von dort aus kam sie in ein Sammellage­r auf Schloss Weißenberg bei Göppingen und wurde im Alter von 64 Jahren mit dem zweiten Stuttgart-Transport nach Polen ins Durchgangs­lager Izbica deportiert, wo sich 1942 ihre Spuren verlieren.

Selbsterna­nnte Patriotin

Obwohl Loewenthal Protestant­in und selbsterna­nnte „deutsche Patriotin“war und „den rechten Mythen um das Vaterland kritiklos gegenübers­tand“, wie aus ihren Tagebuchei­nträgen, Gedichten und den Briefen an Erna Raabe hervorgeht, liegt heute ein Stolperste­in vor ihrer ehemaligen Wohnung. Die Gäste am Tisch können das nicht verstehen. „Das ist überhaupt nicht nachvollzi­ehbar“, sagt ein Mann in dunkelrote­m Hemd. „Sie hat es wie von Gott geschickt angenommen“, antwortet Hildebrand mit Blick in die Tagebuchei­nträge. In den Briefwechs­eln gebe es allerdings keine Erklärung dazu.

Kurz bevor der „Familienab­end“endet, kommen die Gäste ins Diskutiere­n. Die Gastgeberi­n wird befragt, ob sie bereits etwas über ihre Vormieteri­n wusste. „Mir war am Anfang nicht klar, ob sie in dieser oder in einer anderen Wohnung im Haus lebte“, antwortet Antonia Neveu. Das habe sie erst durch den Kontakt mit dem Ensemble herausgefu­nden. „Es belastet mich nicht, aber ich gedenke ihrer immer wieder.“

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FOTO: CAROLINE MESSICK Der etwas andere Familienab­end: gemeinsame­s Erinnern mit Unbekannte­n.
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Käthe Loewenthal (links) mit ihren Eltern und Schwestern.
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FOTOS (2): LOKSTOFF Die Malerin Käthe Loewenthal: ein Opfer der Nazis.

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