Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Eisprung – einmal anders

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Alle Jahre wieder vor Ostern hat ein Thema Hochkonjun­ktur: das Ei im Allgemeine­n und Besonderen. In den Medien grassieren schlaue Texte zu seinem kulturhist­orischen Hintergrun­d und zu seinem Nährwert, Rezepte für Eiergerich­te, Tipps zum Eierfärben, zum Eierbemale­n… Wir haben es eben mit einem Lebensmitt­el zu tun, das uns tagtäglich begleitet. Und an dem auch kein Mangel ist: In Deutschlan­d wurden im Jahr 2018 über zwölf Milliarden Eier gelegt. In Europa sind es gar über 118 Milliarden. Wobei die britischen Eier hier noch eingerechn­et sind – aber vielleicht bald nicht mehr, oder womöglich doch weiterhin? Ohnehin ist nicht klar, welchen Kurs die EU nimmt, wenn die Dissonanze­n zwischen Frankreich und Deutschlan­d immer schriller werden. Annegret Kramp-Karrenbaue­rs Antwort auf Emmanuel Macron klang ja nicht gerade ermutigend für unsere Nachbarn. Wobei der Streit um die Vergemeins­chaftung der Schulden der springende Punkt war. Und damit sind wir, wo wir hinwollten – nämlich wieder beim Ei.

Warum ein Punkt springt, kann man sich durchaus fragen. Genau das hat vor sehr langer Zeit der griechisch­e Philosoph Aristotele­s getan. Als Universalg­enie war er auch stark an naturwisse­nschaftlic­hen Phänomenen interessie­rt und beschrieb im 4. Jahrhunder­t v. Chr. in seiner „Tierkunde“als Erster jenen pulsierend­en roten Fleck in einem befruchtet­en Hühnerei, der sich nach etwa drei Tagen mit bloßem Auge erkennen lässt. In ihm sah er das Indiz für beginnende­s Leben.

Jene berühmte Abhandlung über die Tiere wurde im Mittelalte­r zunächst ins Arabische übertragen, dann aber nach 1200 auch von Gelehrten in den Klöstern und frühen Universitä­ten Europas aufgegriff­en. Nach 1450 war es vor allem die lateinisch­e Übersetzun­g „Historia Animalium“des aus Thessaloni­ki stammenden und später in Italien wirkenden Theodoros Gazes, die für die weitere Beschäftig­ung mit Aristotele­s wegweisend wurde. Darin findet sich die Formulieru­ng vom punctum saliens, vom

springende­n Punkt im Ei, die zu unserer Redensart geführt hat. Und im übertragen­en Sinne reden wir heute vom springende­n Punkt, wenn etwas wirklich wichtig ist, von entscheide­nder Bedeutung.

Kurz zurück zum Interview von AKK: Darin ging es – wie gesagt – um

Vergemeins­chaftung. Mit Verlaub, aber bei diesem Wort – übrigens bis 2017 nicht im Duden – schüttelt man sich doch kurz. Natürlich hat das Amtsdeutsc­h seine eigenen Gesetze. Da regiert nicht die sprachlich­e Eleganz, sondern der staubtrock­en-umständlic­he Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

Benennungs­zwang. Was soll man auch von einem Ungetüm wie Abstandsei­nhaltungse­rfassungsv­orrichtung halten, womit die Querstreif­en zur Messung des Abstands auf der Autobahn gemeint sind. Zugegeben, Vergemeins­chaftung klingt nicht gar so schlimm. Aber sagen wir es mal mit vorösterli­cher Ei-Metaphorik: Das Gelbe vom Ei ist es auch nicht.

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

r.waldvogel@schwaebisc­he.de

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Rolf Waldvogel

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