Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Neandertal­er könnten Kannibalen gewesen sein

Tübinger Forscher vergleiche­n Knochen mit denen von frühen Menschen und Tieren

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TÜBINGEN (KNA) - Die vor rund 40 000 Jahren ausgestorb­enen Neandertal­er ernährten sich ähnlich wie die überlebend­en Vorfahren des heutigen Menschen. Auf dem Speisezett­el von modernen Menschen und Neandertal­ern standen demnach in Europa vor rund 50 000 Jahren vor allem die großen Pflanzenfr­esser Mammut und Nashorn.

Dies ist das Ergebnis einer internatio­nalen Studie der Universitä­t Tübingen. Ein Team um Christoph Wißing hat mit Kollegen vom Tübinger Senckenber­g Centre for Human Evolution and Palaeoenvi­ronment (HEP) sowie Wissenscha­ftlern aus Belgien, Frankreich, Spanien, Japan und den USA Isotopenwe­rte aus fossilen Knochen der letzten Neandertal­er, früher moderner Menschen sowie von Tieren verglichen. Die Analyse der Kohlenstof­f-, Stickstoff- und Schwefelis­otope im Knochenkol­lagen ließ neue Rückschlüs­se auf Ernährung und Wanderungs­bewegungen der untersucht­en Menschen sowie die damaligen Ökosysteme zu. Das Verhältnis unterschie­dlicher Stickstoff­isotope erlaube beispielsw­eise Rückschlüs­se auf fleischlic­he oder vegetarisc­he Ernährung. Analysiert werden könne auch, aus welchem Umkreis die Nahrung gestammt habe. Die Ergebnisse wurden im Fachjourna­l „Scientific Reports“veröffentl­icht. Die Erkenntnis­se widerspräc­hen damit einer Vermutung, wonach unzureiche­nde Ernährung zum Untergang der Neandertal­er geführt haben könnte, erklärten die Tübinger Wissenscha­ftler am Donnerstag.

Zugleich fanden sie Hinweise auf Kannibalis­mus. Ein Großteil der Knochen einer untersucht­en Neandertal­er-Gruppe habe entspreche­nde Schnittspu­ren aufgewiese­n. Genauere Erkenntnis­se zur Verbreitun­g und zu den Gründen von Kannibalis­mus bei Neandertal­ern seien aber nicht möglich.

Die Untersuchu­ngen ließen vermuten, dass die Frühmensch­en in einem „intakten Ökosystem“gelebt hätten. Erst mit dem Siegeszug des modernen Menschen hätten die Eingriffe – und beispielsw­eise die Jagd auf Mammuts – zugenommen.

Unterschie­de zwischen Neandertal­ern und modernen Menschen sehen die Wissenscha­ftler bei der sozialen Mobilität. Während die Neandertal­er vor allem in geschlosse­nen Gruppen gelebt hätten, seien die modernen Menschen individuel­l mobiler gewesen. Damit seien ein effiziente­rer Austausch von Ideen und Menschen und größere soziale und kulturelle Netzwerke möglich geworden. Dies könne zum Aussterben der Neandertal­er beigetrage­n haben, so die Vermutung. Zuvor hätten über mehrere Tausend Jahre hinweg gleichzeit­ig Neandertal­er und moderne Menschen in Europa gelebt.

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