Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mordversuch oder Selbstverletzung
Bluttat im Raum Leutkirch: Zwei Beteiligte, zwei völlig unterschiedliche Versionen
KREIS RAVENSBURG - Mit ausführlichen Schilderungen zum Tathergang – die sich allerdings diametral widersprechen – ist am Mittwoch vor der Jugendkammer des Landgerichts Ravensburg der Prozess gegen einen 19-jährigen Asylbewerber aus Afghanistan fortgesetzt worden (das Alter scheint jetzt geklärt). Vorgeworfen wird ihm ein heimtückischer Mordversuch, den er am Abend des 13. September 2018 gegen einen Landsmann in der gemeinsamen Wohnung im Raum Leutkirch unternommen haben soll. In einem zweiten Anklagepunkt geht es um vorsätzliche Körperverletzung auf dem Isnyer Kinderfest 2018 mittels eines Faustschlages, bei dem ein damals mit ihm befreundeter Afghane einen Nasenbeinbruch erlitt.
Rund siebeneinhalb Stunden lang versuchte das Schöffengericht unter dem Vorsitzenden Richter Veiko Böhm sich ein Bild zu machen über die Person des Angeklagten, den genauen Ablauf der vermeintlichen Messerattacke, die Böhm den „zentralen Tatvorwurf“nannte, und das persönliche Verhältnis zum mutmaßlichen Opfer.
„Blutverschmiert“angetroffen
Stark verkürzt zusammengefasst erklärte der Angeklagte, sein Mitbewohner habe ihn ins gemeinsame Wohnzimmer gerufen, wo er ihn „blutverschmiert“angetroffen habe, weil er sich vermutlich selbst verletzt habe. Nach einem Gerangel, an dessen Verlauf er sich nicht genau erinnern könne, sei der Blutende in die Wohnung des Vermieters und er selbst vor das Haus und zu einem Nachbarn geeilt, um den Krankenwagen zu alarmieren: „Als ich die Polizeisirenen gehört habe, war ich erleichtert“, ließ der Angeklagte über einen Dometscher erklären: „Ich wollte helfen“. Sein damaliger Mitbewohner und Arbeitskollege wolle ihm „etwas in die Schuhe“schieben und sei gemeinsam mit dem Opfer des Faustschlags auf dem Kinderfest (den er einräumte) „schuld, dass ich heute hier sitze“.
Das mutmaßliche Opfer, das im Prozess als Nebenkläger auftritt und auf dessen damalige Angaben gegenüber der Polizei sich die Anklage der Staatsanwaltschaft stützt, schilderte im Zeugenstand die Situation genau umgekehrt: Der Angeklagte sei auf ihn losgegangen, während er auf dem Sofa lag, habe ihn „wahrscheinlich“mit einem Messer verletzt und anschließend zweimal gewürgt – ob mit Tuch, Schal, Decke oder Tischläufer blieb aufgrund der Sprachbarriere unklar. Ihm sei nach dem Gerangel die Flucht zum Vermieter gelungen.
Am Nachmittag befragte das Gericht drei Zeugen, einen ermittelnden Polizeibeamten, den Vermieter und den Nachbarn, und verlas das polizeiliche Protokoll der Befragung eines weiteren Nachbarn. Doch auch deren Angaben trug wenig Erhellendes dazu bei, was in der Wohnung passiert ist: Die Schilderungen des Nachbarn deckten sich im Wesentlichen mit jenen des Angeklagten, was nach der vermeintlichen Attacke vor dem Haus passierte.
Der Vermieter wiederum konnte nur „unnatürliche Schreie“bestätigen, die er aus der Wohnung vernommen habe – Angeklagter wie Nebenkläger reklamierten diese jeweils für sich – und dass er den Blutenden in seiner eigenen Wohnung bis zum Eintreffen des Notarztes bei Bewusstsein zu halten versucht habe. „Ich habe ihm ein paarmal ins Gesicht geklatscht und über seine Lieblingsfußballmannschaft ausgefragt“, schilderte der Zeuge seine „Sorge um den Gesundheitszustand“.
In der vormittäglichen Befragung des Angeklagten wurde deutlich, dass dieser übermäßig dem Alkohol zusprach, vornehmlich Wodka mit bis zu einer Flasche pro Tag, und nahezu täglich einen Joint konsumierte. Finanzielle Probleme, von denen später der Nebenkläger berichtete, stritt er ab. Lediglich Handy-Rechnungen über etwa 600 Euro seien bis zu seiner Verhaftung offen gewesen. Mit den rund 850 Euro, die er mit einem Teilzeitjob in einem Handwerksbetrieb verdiente, sei er „gut klargekommen“.
Allerdings bezichtigte der Angeklagte sich selbst, seinen damaligen Mitbewohner und weitere „vier bis fünf Freunde“rund 20 Ladendiebstählen, die sie in Modegeschäften in Kempten und Lebensmittelmärkten in Isny begangen hätten. Dass er angekündigt habe, diese bei der Polizei zu beichten, könne Ursache für die Selbstverletzung gewesen sein, mit der der Nebenkläger ihn habe unter Druck setzen wollen.
Denn in einem zentralen Punkt – der Ermittlung eines Motivs, das ursächlich ist für die Stichverletzung am Schlüsselbein des mutmaßlichen Opfers – kam das Gericht keinen Schritt weiter. In welche Richtung die Vernehmungen steuern oder welche Verdachtsmomente die Richter hegen, das schimmerte am Mittwoch in zwei kurzen Momenten durch: Richter Böhm sprach einmal von einer „Kain-und-Abel-Geschichte“. Und er fragte den Angeklagten außerdem, ob das Motiv für die Messerattacke nicht gewesen sein könnte, dass er neidisch gewesen sei auf den damaligen Freund, weil dieser gut Fußball spiele, mehr Geld verdiente und bei Betreuern der Asylbewerber beliebt sei. „Darauf bin ich nicht fixiert“, lautete die Antwort des 19-Jährigen.
Vier Fortsetzungstermine plant die Jugendkammer.