Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Joachim lebt wahnsinnig gerne
Zum Welttag des Downsyndroms erzählt Familie Mosch aus Tettnang, wie es für sie ist, ein Kind mit Behinderung zu haben
TETTNANG - Manchmal kommen sie ganz unerwartet, diese Augenblicke, die alles verändern und das Leben in eine Zeit davor und in eine Zeit danach einteilen. Bei Bianka Mosch gab es diesen Moment vor 23 Jahren beim traditionellen Tettnanger Bähnlesfest. Sie hat ihren fünfjährigen Sohn Joachim auf dem Arm, als sie sich durch das Getümmel aus Menschen kämpft. Hin zu der Miniatureisenbahn. Der Bub will unbedingt auch mitfahren. Als sie Joachim in den offenen Waggon zu einem anderen Kind setzen möchte, fängt dieses beim Anblick ihres Sohnes zu schreien an. Ein Vater, der gerade sein Kind dazusetzen will, hält inne, überlegt es sich anders und hebt sein Kind wieder heraus. „Da habe ich gewusst, jetzt hast du wirklich ein Kind mit Behinderung. Jetzt geht der Kampf los“, sagt Bianka Mosch 23 Jahre später am Küchentisch eines Tettnanger Einfamilienhauses. Durch die Fenster fällt eine zaghafte Frühlingssonne. Ihr Mann Hans-Jürgen sitzt gegenüber und nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse.
Das Davor – also die ersten fünf Lebensjahre von Joachim, der mit der Einschränkung des Downsyndroms auf die Welt gekommen ist – war weniger problematisch. Bis zu einer gewissen Altersstufe treten die Unterschiede zwischen gesunden und Kindern mit Downsyndrom nicht so stark zutage, erklärt die heute 50-jährige Mutter. „Gerade, weil Joachim damals schon so ein toller Kerle war“, sagt sein stolzer Vater und muss sofort lachen. Sein Sohn lebe einfach wahnsinnig gerne. Der Joachim, der habe alle auf Trab gehalten. „Er hat Sachen gemacht, die wir uns nie trauen würden, auch wenn wir manchmal vielleicht den gleichen Impuls spüren.“Wie damals im Freibad, als der Knirps an einem stattlichen Hinterteil einer Dame einfach nicht vorbeigehen kann, ohne ihr einen kleinen Klaps zu verpassen. „Der Mann der Frau ist aufgesprungen und hat sich furchtbar aufgeregt“, sagt Bianka Mosch und vergräbt ihr Gesicht und ihr unterdrücktes Lachen in beiden Händen. „Die Frau selber hat einen Lachkrampf gekriegt“, sagt ihr Mann.
Und doch: Die Diagnose Downsyndrom traf das junge Paar nach der Geburt wie ein Hammerschlag. Bianka Mosch war zu diesem Zeitpunkt 22, Joachim ihr erstes Kind. Weder sie noch ihr Mann hatten in der Schwangerschaft auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass mit dem Baby vielleicht etwas nicht stimmen könnte. Geschweige denn hatten sie darüber nachgedacht, spezielle Untersuchungen wie die des Fruchtwassers durchführen zu lassen. Auch ein Bluttest, über den am morgigen Freitag der Deutsche Bundestag debattiert und darüber, ob die Krankenkassen ihn wann und in welchem Fall künftig bezahlen sollen, wäre für die Moschs nie in Frage gekommen. „Es war schon ein Schock“, sagt Bianka Mosch, die so quirlig ist, dass sie kaum eine Minute ruhig auf ihrem Stuhl sitzen kann. Sie erinnert sich
„Wir haben unsere Umgebung immer von Anfang an mit ihm konfrontiert.“Bianka Mosch, Mutter eines Kindes mit Downsyndrom
noch, wie man ihr damals nach dem Kaiserschnitt in Tettnang das Kind zunächst weggenommen hat, um es an der Kinderklinik in Friedrichshafen genauer zu untersuchen. „Das waren vier Tage, ich …“– die Mutter bricht den Satz ab. Schwebezustand. Nicht wissen, was ist, nicht wissen, was wird. „Furchtbar.“
Doch die Unruhe, nachdem die Diagnose Trisomie 21 feststeht, legt sich bald. Denn das junge Paar steht zusammen. „Ich habe gewusst, wir müssen das gemeinsam anpacken“, sagt Bianka Mosch, und ihr Mann, ganz Fels in der Brandung, nickt bei diesem Satz. „Ich habe noch die Worte meiner Mutter im Ohr“, sagt sie. Während sie selbst gezaudert und immer wieder die Frage aufgeworfen habe: „Warum ich?“, da habe die Mama die Gegenfrage gestellt: „Warum du nicht?“. Da sei ihr ein Licht aufgegangen. „Von dem Zeitpunkt an habe ich wieder Energie gehabt“, sagt Bianka Mosch. Der heute 28-jährige Joachim ist bis auf sein Downsyndrom und eine starke Hörschädigung gesund.
Doch bei allem Optimismus und dem Willen, das Beste aus dem zu machen, was im Rahmen von Joachims Fähigkeiten liegt – ein Spazier- gang sei es bei Gott nicht immer gewesen. „Ich weiß gar nicht, wie oft mein Sohn weggelaufen ist“, sagt Bianka Mosch. Und natürlich habe die Familie sich trotz der sich aus Joachims sonnigem Wesen ergebenden Situationskomik entschlossen, den Buben anständig zu erziehen. „Wir haben unsere Umgebung immer von Anfang an mit ihm konfrontiert“, sagt die Mutter. Egal ob in der Kirchengemeinde, in der die Familie aktiv ist, in der Nachbarschaft, bei Verwandten oder Freunden: „Joachim war immer dabei. So wie er ist.“Ihn zu verstecken, sich seiner gar zu schämen – das sei nicht vorgekommen in der Lebenswirklichkeit der Familie, die heute sechs Köpfe zählt. „Nach Joachim kamen noch Klara, Paulina und Jakob.“Und bei keinem der späteren Kinder habe sie eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen, erklärt Bianka Mosch. „Das wäre mir so vorgekommen, als ob ich damit die Existenz meines Sohnes infrage stelle, seine Würde, sein ganzes Wesen.“
Hauptsache standesgemäß
Joachims Geschwister sind ohne Behinderung auf die Welt gekommen. Und sie haben sich – neben dem viel Aufmerksamkeit auf sich ziehenden und kräftezehrenden Bruder – ihren Platz in der Welt gesucht. Bianka Mosch sagt, sie verurteile Frauen nicht, die Tests machen ließen und sich anders entschieden, als sie es je getan hätte. Andererseits: „Wenn das jetzt Kassenleistung wird, wenn es irgendwann unabhängig von Alter oder Risiko zum Standard wird, wo führt uns das hin?“Und ihr Mann Hans-Jürgen, 53 Jahre alt, sagt: „Bei mir in der Arbeit sehe ich, wie die jungen Kollegen Kinder und alles, was damit zu tun hat, perfekt planen wollen.“Egal ob Auto, Urlaub oder Nachwuchs – alles müsse standesgemäß sein, das Prestige stimmen. Das sei ein Bild der Gegenwart, mit dem er und seine Frau nichts anzufangen wüssten.
Und Bianka
Mosch fürchtet: „Irgendwann wird der Tag kommen, an dem man Eltern mit einem Kind mit Downsyndrom die Kosten vorrechnet.“Man werde sie fragen, warum sie der Gesellschaft eine solche Last aufbürdeten – wo es doch zuverlässige Tests gebe. „Davor habe ich Angst“, sagt Bianka Mosch, die als gelernte Krankenschwester auch schon in einer gynäkologischen Praxis gearbeitet hat – und damit auch die Gewissensnöte von Frauen kennt, die nicht das Glück einer so stabilen Familie und Partnerschaft haben.
Die Lebenshilfe Deutschland teilt die Befürchtungen der Familie und bringt sie in folgendem Satz auf den
„Joachim glaubt nicht daran, dass er eine Behinderung hat.“Vater Hans- Jürgen Mosch über seinen Sohn
Punkt: „Auch Menschen mit Downsyndrom haben ein Recht auf Leben.“Alle anderen Fragen, die sich berechtigterweise unter dem Eindruck einer solchen Behinderung stellten, seien nachrangig. Der Landesverband Lebenshilfe BadenWürttemberg betont allerdings die Wahlfreiheit der Eltern. Landesgeschäftsführer Ingo Pezina sagt im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“: „Wir haben das Thema mit Vertretern Behinderter und Werkstattbeiräten sowie Behinderten selbst beraten. Wir lehnen Tests nicht generell ab – ganz wichtig ist aber, dass Eltern vor einem Test unabhängig beraten werden.“Damit ihnen bewusst werde, welche Möglichkeiten und Hilfen es gibt, auch ein Kind mit Handicap großzuziehen. Die Befürworter des Bluttests als Kassenleistung, allen voran der Verein Pro Familia, argumentieren jenseits ethischer Fragen vor allem so: Wieso soll man einen risikolosen Bluttest ablehnen und nicht von der Krankenkasse tragen lassen, während die risikobehaftete Fruchtwasseruntersuchung übernommen wird? Immerhin kommt es je nach Statistik und Studie bei jeder 200. bis 500. Schwangerschaft auf- grund der Fruchtwasseruntersuchung zu einer Fehlgeburt.
„Joachim glaubt nicht daran, dass er eine Behinderung hat“, sagt sein Vater und schmunzelt. Er lebe sein Leben. Er arbeitet in einer Einrichtung in Weingarten und wohnt in einer Gemeinschaft in Ravensburg. Mit 19 haben ihn die Eltern ziehen lassen, was ihnen nicht leicht gefallen sei. „Aber genau darauf haben wir immer hingearbeitet: so selbstständig wie möglich.“Ein fast ganz normales Leben.
Natürlich fehlt eine Partnerin
Aber vermisst ihr Sohn nichts? Sehnt er sich nicht danach, auch den Führerschein machen zu dürfen? Vielleicht eine eigene Wohnung zu haben? Eine Familie zu gründen? „Natürlich fehlt unserem Sohn eine Partnerin“, sagt Hans-Jürgen Mosch. In seinem Umfeld gebe es sehr wohl auch adrette Mädels – aber eines mit Behinderung habe ihn nie interessiert. Doch deshalb ein kummervolles Leben ohne Glück oder Freude hinter der Existenz von Joachim zu vermuten, sei absurd. Sein Leben infrage zu stellen, sowieso. „Es gibt heute Menschen mit Downsyndrom und Abitur“, sagt Bianka Mosch. Trisomie 21 sei kein Weltuntergang. „Unser Sohn ist ein Geschenk des Himmels“, sagt Vater Hans-Jürgen und steht auf, um noch einmal Kaffee nachzugießen. „Ich, wir alle, sind an Joachim gewachsen.“