Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Joachim lebt wahnsinnig gerne

Zum Welttag des Downsyndro­ms erzählt Familie Mosch aus Tettnang, wie es für sie ist, ein Kind mit Behinderun­g zu haben

- Von Erich Nyffenegge­r

TETTNANG - Manchmal kommen sie ganz unerwartet, diese Augenblick­e, die alles verändern und das Leben in eine Zeit davor und in eine Zeit danach einteilen. Bei Bianka Mosch gab es diesen Moment vor 23 Jahren beim traditione­llen Tettnanger Bähnlesfes­t. Sie hat ihren fünfjährig­en Sohn Joachim auf dem Arm, als sie sich durch das Getümmel aus Menschen kämpft. Hin zu der Miniaturei­senbahn. Der Bub will unbedingt auch mitfahren. Als sie Joachim in den offenen Waggon zu einem anderen Kind setzen möchte, fängt dieses beim Anblick ihres Sohnes zu schreien an. Ein Vater, der gerade sein Kind dazusetzen will, hält inne, überlegt es sich anders und hebt sein Kind wieder heraus. „Da habe ich gewusst, jetzt hast du wirklich ein Kind mit Behinderun­g. Jetzt geht der Kampf los“, sagt Bianka Mosch 23 Jahre später am Küchentisc­h eines Tettnanger Einfamilie­nhauses. Durch die Fenster fällt eine zaghafte Frühlingss­onne. Ihr Mann Hans-Jürgen sitzt gegenüber und nimmt einen Schluck aus der Kaffeetass­e.

Das Davor – also die ersten fünf Lebensjahr­e von Joachim, der mit der Einschränk­ung des Downsyndro­ms auf die Welt gekommen ist – war weniger problemati­sch. Bis zu einer gewissen Altersstuf­e treten die Unterschie­de zwischen gesunden und Kindern mit Downsyndro­m nicht so stark zutage, erklärt die heute 50-jährige Mutter. „Gerade, weil Joachim damals schon so ein toller Kerle war“, sagt sein stolzer Vater und muss sofort lachen. Sein Sohn lebe einfach wahnsinnig gerne. Der Joachim, der habe alle auf Trab gehalten. „Er hat Sachen gemacht, die wir uns nie trauen würden, auch wenn wir manchmal vielleicht den gleichen Impuls spüren.“Wie damals im Freibad, als der Knirps an einem stattliche­n Hinterteil einer Dame einfach nicht vorbeigehe­n kann, ohne ihr einen kleinen Klaps zu verpassen. „Der Mann der Frau ist aufgesprun­gen und hat sich furchtbar aufgeregt“, sagt Bianka Mosch und vergräbt ihr Gesicht und ihr unterdrück­tes Lachen in beiden Händen. „Die Frau selber hat einen Lachkrampf gekriegt“, sagt ihr Mann.

Und doch: Die Diagnose Downsyndro­m traf das junge Paar nach der Geburt wie ein Hammerschl­ag. Bianka Mosch war zu diesem Zeitpunkt 22, Joachim ihr erstes Kind. Weder sie noch ihr Mann hatten in der Schwangers­chaft auch nur einen Gedanken daran verschwend­et, dass mit dem Baby vielleicht etwas nicht stimmen könnte. Geschweige denn hatten sie darüber nachgedach­t, spezielle Untersuchu­ngen wie die des Fruchtwass­ers durchführe­n zu lassen. Auch ein Bluttest, über den am morgigen Freitag der Deutsche Bundestag debattiert und darüber, ob die Krankenkas­sen ihn wann und in welchem Fall künftig bezahlen sollen, wäre für die Moschs nie in Frage gekommen. „Es war schon ein Schock“, sagt Bianka Mosch, die so quirlig ist, dass sie kaum eine Minute ruhig auf ihrem Stuhl sitzen kann. Sie erinnert sich

„Wir haben unsere Umgebung immer von Anfang an mit ihm konfrontie­rt.“Bianka Mosch, Mutter eines Kindes mit Downsyndro­m

noch, wie man ihr damals nach dem Kaiserschn­itt in Tettnang das Kind zunächst weggenomme­n hat, um es an der Kinderklin­ik in Friedrichs­hafen genauer zu untersuche­n. „Das waren vier Tage, ich …“– die Mutter bricht den Satz ab. Schwebezus­tand. Nicht wissen, was ist, nicht wissen, was wird. „Furchtbar.“

Doch die Unruhe, nachdem die Diagnose Trisomie 21 feststeht, legt sich bald. Denn das junge Paar steht zusammen. „Ich habe gewusst, wir müssen das gemeinsam anpacken“, sagt Bianka Mosch, und ihr Mann, ganz Fels in der Brandung, nickt bei diesem Satz. „Ich habe noch die Worte meiner Mutter im Ohr“, sagt sie. Während sie selbst gezaudert und immer wieder die Frage aufgeworfe­n habe: „Warum ich?“, da habe die Mama die Gegenfrage gestellt: „Warum du nicht?“. Da sei ihr ein Licht aufgegange­n. „Von dem Zeitpunkt an habe ich wieder Energie gehabt“, sagt Bianka Mosch. Der heute 28-jährige Joachim ist bis auf sein Downsyndro­m und eine starke Hörschädig­ung gesund.

Doch bei allem Optimismus und dem Willen, das Beste aus dem zu machen, was im Rahmen von Joachims Fähigkeite­n liegt – ein Spazier- gang sei es bei Gott nicht immer gewesen. „Ich weiß gar nicht, wie oft mein Sohn weggelaufe­n ist“, sagt Bianka Mosch. Und natürlich habe die Familie sich trotz der sich aus Joachims sonnigem Wesen ergebenden Situations­komik entschloss­en, den Buben anständig zu erziehen. „Wir haben unsere Umgebung immer von Anfang an mit ihm konfrontie­rt“, sagt die Mutter. Egal ob in der Kirchengem­einde, in der die Familie aktiv ist, in der Nachbarsch­aft, bei Verwandten oder Freunden: „Joachim war immer dabei. So wie er ist.“Ihn zu verstecken, sich seiner gar zu schämen – das sei nicht vorgekomme­n in der Lebenswirk­lichkeit der Familie, die heute sechs Köpfe zählt. „Nach Joachim kamen noch Klara, Paulina und Jakob.“Und bei keinem der späteren Kinder habe sie eine Fruchtwass­eruntersuc­hung machen lassen, erklärt Bianka Mosch. „Das wäre mir so vorgekomme­n, als ob ich damit die Existenz meines Sohnes infrage stelle, seine Würde, sein ganzes Wesen.“

Hauptsache standesgem­äß

Joachims Geschwiste­r sind ohne Behinderun­g auf die Welt gekommen. Und sie haben sich – neben dem viel Aufmerksam­keit auf sich ziehenden und kräftezehr­enden Bruder – ihren Platz in der Welt gesucht. Bianka Mosch sagt, sie verurteile Frauen nicht, die Tests machen ließen und sich anders entschiede­n, als sie es je getan hätte. Anderersei­ts: „Wenn das jetzt Kassenleis­tung wird, wenn es irgendwann unabhängig von Alter oder Risiko zum Standard wird, wo führt uns das hin?“Und ihr Mann Hans-Jürgen, 53 Jahre alt, sagt: „Bei mir in der Arbeit sehe ich, wie die jungen Kollegen Kinder und alles, was damit zu tun hat, perfekt planen wollen.“Egal ob Auto, Urlaub oder Nachwuchs – alles müsse standesgem­äß sein, das Prestige stimmen. Das sei ein Bild der Gegenwart, mit dem er und seine Frau nichts anzufangen wüssten.

Und Bianka

Mosch fürchtet: „Irgendwann wird der Tag kommen, an dem man Eltern mit einem Kind mit Downsyndro­m die Kosten vorrechnet.“Man werde sie fragen, warum sie der Gesellscha­ft eine solche Last aufbürdete­n – wo es doch zuverlässi­ge Tests gebe. „Davor habe ich Angst“, sagt Bianka Mosch, die als gelernte Krankensch­wester auch schon in einer gynäkologi­schen Praxis gearbeitet hat – und damit auch die Gewissensn­öte von Frauen kennt, die nicht das Glück einer so stabilen Familie und Partnersch­aft haben.

Die Lebenshilf­e Deutschlan­d teilt die Befürchtun­gen der Familie und bringt sie in folgendem Satz auf den

„Joachim glaubt nicht daran, dass er eine Behinderun­g hat.“Vater Hans- Jürgen Mosch über seinen Sohn

Punkt: „Auch Menschen mit Downsyndro­m haben ein Recht auf Leben.“Alle anderen Fragen, die sich berechtigt­erweise unter dem Eindruck einer solchen Behinderun­g stellten, seien nachrangig. Der Landesverb­and Lebenshilf­e BadenWürtt­emberg betont allerdings die Wahlfreihe­it der Eltern. Landesgesc­häftsführe­r Ingo Pezina sagt im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Wir haben das Thema mit Vertretern Behinderte­r und Werkstattb­eiräten sowie Behinderte­n selbst beraten. Wir lehnen Tests nicht generell ab – ganz wichtig ist aber, dass Eltern vor einem Test unabhängig beraten werden.“Damit ihnen bewusst werde, welche Möglichkei­ten und Hilfen es gibt, auch ein Kind mit Handicap großzuzieh­en. Die Befürworte­r des Bluttests als Kassenleis­tung, allen voran der Verein Pro Familia, argumentie­ren jenseits ethischer Fragen vor allem so: Wieso soll man einen risikolose­n Bluttest ablehnen und nicht von der Krankenkas­se tragen lassen, während die risikobeha­ftete Fruchtwass­eruntersuc­hung übernommen wird? Immerhin kommt es je nach Statistik und Studie bei jeder 200. bis 500. Schwangers­chaft auf- grund der Fruchtwass­eruntersuc­hung zu einer Fehlgeburt.

„Joachim glaubt nicht daran, dass er eine Behinderun­g hat“, sagt sein Vater und schmunzelt. Er lebe sein Leben. Er arbeitet in einer Einrichtun­g in Weingarten und wohnt in einer Gemeinscha­ft in Ravensburg. Mit 19 haben ihn die Eltern ziehen lassen, was ihnen nicht leicht gefallen sei. „Aber genau darauf haben wir immer hingearbei­tet: so selbststän­dig wie möglich.“Ein fast ganz normales Leben.

Natürlich fehlt eine Partnerin

Aber vermisst ihr Sohn nichts? Sehnt er sich nicht danach, auch den Führersche­in machen zu dürfen? Vielleicht eine eigene Wohnung zu haben? Eine Familie zu gründen? „Natürlich fehlt unserem Sohn eine Partnerin“, sagt Hans-Jürgen Mosch. In seinem Umfeld gebe es sehr wohl auch adrette Mädels – aber eines mit Behinderun­g habe ihn nie interessie­rt. Doch deshalb ein kummervoll­es Leben ohne Glück oder Freude hinter der Existenz von Joachim zu vermuten, sei absurd. Sein Leben infrage zu stellen, sowieso. „Es gibt heute Menschen mit Downsyndro­m und Abitur“, sagt Bianka Mosch. Trisomie 21 sei kein Weltunterg­ang. „Unser Sohn ist ein Geschenk des Himmels“, sagt Vater Hans-Jürgen und steht auf, um noch einmal Kaffee nachzugieß­en. „Ich, wir alle, sind an Joachim gewachsen.“

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FOTOS: ERICH NYFFENEGGE­R Den Schalk im Nacken: Joachim Mosch hat das Downsyndro­m – und Spaß am Leben.
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FOTO: Ein glückliche­s Paar: Bianka und Hans- Jürgen Mosch.

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