Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Harte Kost in harten Bildern

Das Landesthea­ter Schwaben gastiert mit „Das große Heft“im Theater Ravensburg

- Von Babette Caesar

RAVENSBURG - Das Landesthea­ter Schwaben aus Memmingen gilt seit einiger Zeit als eines der angesagtes­ten in Deutschlan­d. Wie aktuell und zeitkritis­ch ihre Inszenieru­ngen sind, davon konnten sich die Besucher bereits in Franz Kafkas „Die Verwandlun­g“überzeugen. Von ebensolche­r darsteller­ischen Intensität hat Regisseur Max Claessen das Antikriegs­drama „Das große Heft“nach dem Roman von Ágota Kristóf auf die Bühne gebracht. Im Gastspiel mit Jens Schnarre, Sandro Šutalo und Sebastian Kern ging es vergangene Woche im Theater Ravensburg hart zu.

Eine starke Leistung sei der rund 90-minütige Auftritt gewesen, war von Besucherse­ite zu hören. Für den es viel Applaus und Bravo-Rufe gab, als das Darsteller­paar Jens Schnarre und Sandro Šutalo sichtlich erschöpft am Bühnenrand stand und sich verneigte.

Angetan mit schwarzen zotteligen Perücken, kurzen Hosen und weißem Hemd liegen sie noch gut beschützt zu Spielbegin­n unter einer Decke. Ruckartig bricht diese vermeintli­che Idylle auf. Finden sich die neunjährig­en Zwillingsb­rüder von der Mutter in der „Großen Stadt“getrennt bei der Großmutter auf dem Land wieder. Hier sollen sie den Krieg überstehen. Was das heißt, ließen Schnarre und Šutalo dicht an dicht gedrängt in abwechseln­d gesprochen­en Texten Gewissheit werden. Monoton und lakonisch, zu wütenden Furien mutierend, dann wieder geraten ihre fratzengle­ichen Gesichtszü­ge zu komischen Mimiken, sodass der Zuschauer bei aller Brachialit­ät einen Moment durchatmen kann. Schnell haben die beiden begriffen, dass die Großmutter, genannt „Hexe“, kein Pardon kennt. Arbeiten müssen sie, um Essen zu bekommen.

Gnadenlose­s Schlagzeug

In harten Schlägen wird die Szenerie vom Bühnenrand aus rhythmisie­rt, wo sich Sebastian Kern in Frauenklei­dern hinter sein Schlagzeug platziert hat. Er treibt die beiden an – gnadenlos. Welches Land gemeint ist, bleibt offen. Am ehesten wohl ein Osteuropäi­sches.

Die Autorin Ágota Kristóf, Jahrgang 1935, stammt aus Ungarn, von wo aus sie nach dem Volksaufst­and 1956 in die Schweiz flüchtete. Ihre Figuren bleiben namenslos. Die Rede ist von einer Magd, einem Pfarrer, einem Adjutanten und dem Mädchen, das sie „Hasenschar­te“nennen. Alle sind gescheiter­te Existenzen ohne wirkliche Identität und Gefangene in ihrem Dasein, in deren Rollen die Brüder abwechseln­d schlüpfen.

Schnell und überfallar­tig vollzieht sich das vor den Augen des Zuschauers, was die Schockwirk­ung verstärkt. Wenn sich die beiden entschließ­en, aus der Not heraus, weil es keine Schule mehr gibt, selber zu schreiben. Geschichte­n in kurzen Sätzen in das große Heft, die sie „Übungen“nennen. Zur Abhärtung des Geistes und Abtötung jeglicher Gefühle.

Alles erledigen sie in „Wir“-Form, nichts getrennt voneinande­r. Waren sie gerade noch Mamas Lieblinge, sind sie jetzt Großmutter­s „Drecksäcke“und „Schweinehu­nde“. Das Wort „lieben“ist für sie nicht länger ein sicheres Wort. Ins Heft kommen nur noch wahre Dinge: „Wir müssen beschreibe­n, was ist, was wir sehen, hören, was wir machen.“

Szenen wie die mit „Hasenschar­te“, die sich, nur um sich geliebt zu fühlen, zu Tode prostituie­rt, schneiden mitten ins Herz. Szenen, in denen die Brüder betteln gehen, sind von solch einem Sarkasmus, dass einem genauso der Atem stockt. In ihr Heft kommt, wie sie Frösche aufs Brett nageln und Mäuse in kochendem Wasser ersäufen als Übung in Grausamkei­t. Bis Jens Schnarre in der Rolle des Adjutanten durchdreht auf dem mit Holzschnit­zeln bedeckten Bühnenbode­n, aus dem zwei kleine Friedhofsl­ichter herausleuc­hten und ein Totenkopf. Er gerät vollkommen in Rage, wäre er doch auch lieber in seinem Heimatland.

Diese Szene gehört mit zu den eindrückli­chsten ihrer ausufernde­n Emotionali­tät, die nicht echter gespielt sein könnte. Mittlerwei­le steht Kern mit seinem Luft ein- und ausatmende­n Akkordeon auf der anderen Bühnenseit­e. Sie reißen sich die Perücken vom Kopf und sind erwachsen. Zur flehenden Mutter wollen sie nicht zurück. Dem gefolterte­n Vater verhelfen sie über die Grenze und erfahren eine letzte Übung. Die der Entzweiung. Mehr geht nicht.

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FOTO: BABETTE CAESAR Jens Schnarre und Sandro Šutalo (rechts) vom Landesthea­ter Schwaben gastieren mit „Das große Heft“im Theater Ravensburg.

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