Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Einen Oscar fürs beste Städte-Double
Toronto ist mal Chicago, mal New York – Der Streifzug zu den Drehorten wird zur spannenden City-Schnitzeljagd
Irgendwann wird auch der beste Doppelgänger enttarnt. Toronto passierte das zuletzt im Jahre 2008: Im Science-Fiction-Streifen „Der unglaubliche Hulk“kämpft der Titelheld, ein grüner Koloss mit übermenschlichen Kräften, im actionreichen Film-Finale gegen eine ganze Armada – angeblich in New Yorks Stadtteil Harlem, vorm legendären Apollo Theater. Doch hinter dessen Leuchtreklame erstrahlt im Film die des „Zanzibar“, eines berühmt-berüchtigten Stripclubs in Toronto und zwei Häuser weiter lugt die Fassade von „Sam, the Record Man“hervor, einst Kanadas führender Plattenladen mit zwei riesigen, blinkenden Neon-LPs überm Eingang. Wird schon keiner merken, mögen sich die Film-Ausstatter beim Anbringen des falschen ApolloSchriftzuges in der Yonge Street gedacht haben – froh darüber, dass Toronto eine seiner Hauptverkehrsachsen unkompliziert und preiswert als New-York-Double zur Verfügung stellt.
Zurück in die Zwanziger-Jahre
Aufwendige Drehs kann man als Toronto-Besucher beinahe täglich erleben. Mit Flatterband abgesperrte Hauseingänge, Filmscheinwerfer und Kameras auf Bürgersteigen, „Action“-Rufe von Regisseuren – Filmleute nennen die 2,6-MillionenMetropole am Ontariosee schon lange „Hollywood North“. Und zwar nicht nur, weil die Straßenschluchten in Torontos zentralem, schachbrettartig angelegten Finanzdistrikt mit ihren stählern glitzernden Wolkenkratzern als Kopie einer aktuellen US-City-Kulisse so täuschend echt wirken. Chicago-Ambiente der Zwanziger Jahre gesucht? Auf dem Höhepunkt von Jazz und Prohibition? Kein Problem in Toronto! Für den 2003 mit sechs Oscars ausgezeichneten Musical-Film „Chicago“wurde das klotzige Grand-Hotel „Fairmont Royal“in der City kurzerhand zum „Chicago-Hotel“umdekoriert, damit Richard Gere, Renee Zellweger und Catherine Zeta-Jones hier ihr verruchtes Spiel rund um Mord und Show-Karriere filmen konnten. Wer sich also ins Chicago der Roaring Twenties hineinträumen möchte – einfach mal für eine halbe Stunde in die kathedralig-plüschige Marmor-Lobbyhalle des „Fairmont“einchecken – zum LeuteGucken oder – mit Glück – zum Promi-Kiebitzen: Bruce Willis, Morgan Freeman und Helen Mirren waren 2010 da für die Agentenkomödie „R.E.D“, Katie Holmes 2011 als Präsidentengattin Jackie in der TV-Serie „Die Kennedys“. Etwa 20-mal pro Jahr wird ein Kinoset aufgebaut im Luxushotel von 1929.
„Star-Trek“-Kulisse
Von hier aus ins 24. Jahrhundert muss man sich nicht beamen lassen, ein kurzer Fußmarsch sechs Querstraßen Richtung Norden reicht, und schon steht man vor zwei ineinander gestellten Hochhaus-Beton-Halbkreisen, außen fensterlos mit einem scheinbar plattgedrückten, weißen Riesen-Ei in der Mitte – im ScienceFiction-Klassiker „Star Trek – Next Generation“ein Alien-Portal, in Wirklichkeit aber Torontos futuristisch gestaltetes Rathaus von 1965.
Die Stadt überrascht auch an ihren Rändern, wo die Häuser Normalhöhe haben und meist deutlich älter sind als 50 Jahre. Hier macht’s daher noch mehr Spaß, im SchnitzeljagdModus Filmschauplätze aufzustöbern. Etwa am Queens Park, wo das respekteinflößende, rotbraune „Legislative Building“beim „Chicago“Dreh kurzerhand vom Parlamentszum Gerichtssitz mutierte. Gleich nebenan im Park: Torontos Uni, gegründet 1827. Viele ihrer efeuberankten, grau-anthrazitfarbenen Gebäude stammen noch aus dem 19. Jahrhundert, sehen mit Zinnen, Türmen und Schornstein-Viererreihen aus wie kleine Schlösser oder Landhäuser. Ideal, um Harvard zu doubeln, Bostons Elite-Uni. So geschehen 1997 im Drama „Good Will Hunting“mit Matt Damon, Ben Affleck, die für ihr Drehbuch ebenso einen Oscar bekamen wie Robin Williams als bester Nebendarsteller. Beim Schlendern über den luftigen, grünen Campus kann man kickende Studenten auf dem Rasen beobachten. Wissen sie eigentlich, dass sie ihre Freistöße quasi in Hollywood schießen? „Klar“, sagt Gary aus dem US-Bundesstaat Wisconsin und lacht schelmisch, „diese Hochschule hab ich mir doch ausgesucht, als ich vor Jahren den ,Hulk’ schaute – so wie der im Film wollte ich auch an der altehrwürdigen Culver-University in Virginia studieren und war überrascht, dass es in Wirklichkeit die von Toronto ist.“
Etwa 70 große Kinofilme werden hier pro Jahr gedreht, gut 3000 Drehgenehmigungen erteilt die Stadt insgesamt pro Jahr und kann umgerechnet mehr als 130 Millionen Euro Ausgaben der Produktionsfirmen verzeichnen. Die kommen auch nach Jahrzehnten immer noch gern – vor allem, weil in Toronto steuerliche Vorteile winken und die Drehkosten etwa 30 Prozent unter denen in New York City liegen. Hinter dem „Big Apple“und Los Angeles ist Toronto die Nummer 3 der Filmstädte Nordamerikas, beschäftigt inzwischen 25 000 Menschen im Kino- beziehungsweise TV-Business. Und hätte längst einen neu zu schaffenden Oscar verdient: den fürs beste Allzweck-Location-Double.
Besonders gerne buchen Filmcrews das „Casa Loma“ein mittelalterlich anmutendes Schloss, inmitten eines gepflegten Villenviertels,
ANZEIGEN auf einem 17 000 Quadratmeter großen Hügelgrundstück im Viertel Davenport Hill gelegen. Mit Springbrunnen im Terrassengarten, 98 Zimmern, drei Bowlingbahnen und einem Ofen, groß genug, um darin einen Ochsen zu braten. Der kanadische Unternehmer Sir Henry Pellatt, reich geworden mit Minen, Versicherungen und Elektrizitätswerken, hatte dieses noch heute größte Wohnhaus Kanadas bis 1914 bauen lassen, verlor aber während des Ersten Weltkriegs fast sein ganzes Vermögen und musste 1924 ausziehen. Heute ist das Haus auf dem Hügel – so die deutsche Übersetzung des spanischen Namens – ein Museum.
Beliebter Drehort im Schloss
Im Keller, zwischen Souvenirshop und Toiletten, hängen Plakate der hier gedrehten Filme: „Cocktail“, ein Frühwerk von Tom Cruise, ist ebenso darunter wie „The Kennedys“oder die Komödie „Der Babynator“. Beliebtester Drehort im Hügel-Schloss ist der Oak Room, gleich neben der Eingangshalle. Ein düsterer, mit plüschigen Möbeln, Brokatvorhängen, ausladendem Flügel, korinthischen Säulen und 1,50 Meter hohen Kerzenleuchtern überladener Saal, der dem gerissenen Anwalt Billy Flynn (Richard Gere) in „Chicago“als Büro diente. Dieser und weitere Casa Loma-Räume sind wiederum in „XMen“Schauplätze einer Spezialschule für Menschen mit übersinnlichen Kräften. Der Science-FictionErfolg mit Hugh Jackman und Halle Berry aus dem Jahr 2000 wurde von Bryan Singer inszeniert, wenn auch mit kurzzeitiger Unterbrechung: Übereifrige Polizisten hielten den Regisseur für einen Schaulustigen und baten ihn, sich vom Set zu entfernen.