Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Syrer hatte vier Jahre ein Geschoss im Bein
Ali Hussein wurde 2015 in Damaskus schwer verletzt und jetzt in Bad Waldsee notoperiert
BAD WALDSEE - Als er die Röntgenaufnahmen seines Patienten anschaute, staunte Peter Merz, Facharzt für Unfallchirurgie am Krankenhaus Bad Waldsee, nicht schlecht: Im Unterschenkel von Ali Hussein steckte ein Geschoss fest, das dem gebürtigen Syrer erst vier Jahre nach seinem Beschuss in Damaskus gesundheitliche Probleme bereitete. Als Notfall kam der 28-Jährige im August in die OSK-Klinik, wurde sofort operiert und konnte diese Woche seine Arbeit im städtischen Baubetriebshof Aulendorf schmerzfrei wieder aufnehmen.
Als Hussein schmerzgeplagt und mit einer „mandaringroßen Schwellung“(Merz) an der Wade in der chirurgischen Ambulanz des Krankenhauses aufgenommen wurde, dauerte es nicht lange, bis der erfahrene Mediziner zum richtigen Befund kam. „Als Herr Hussein mir sagte, dass an seinem Unterschenkel außen jeder Magnet festhält und dass er beim Betreten eines Ladengeschäftes Alarm auslöst, war mir klar, dass etwas Metallisches der Grund dafür sein musste“, erzählt der Stationsarzt. Und weil der Patient aus dem Bürgerkriegsland Syrien stammt und dort im Mai 2015 bei einem Luftangriff unter heftigen Beschuss gekommen war, musste Merz nur noch „1+1“zusammenzählen.
Und die Röntgenbilder bestätigten die Vermutung des Mediziners: In Husseins Bein steckte eine Munition, die im Laufe der Zeit korrodierte und eine Entzündung verursachte. Dabei hatte der 28-Jährige zuvor kaum Schmerzen, die Einschusswunde war längst verheilt. Allerdings habe sich sein linkes Bein „schon ein bisschen anders angefühlt“als sein rechtes. „Dass das drei Zentimeter lange Geschoss mit der Zeit vom Einschussbereich unterhalb des Knies den halben Unterschenkel hinuntergewandert ist und erst jetzt schmerzte – dieser Verlauf hat uns doch etwas überrascht“, sagt Merz.
„Aber Herr Hussein hat trotz allem Glück gehabt, eine solche Schussverletzung hätte im ungünstigsten Falle zu einer schweren Blutvergiftung oder zu einer Amputation seines Unterschenkels führen können“, weiß der Waldseer ChirurgieChefarzt Andreas Suckel. Er freut sich deshalb mit Operateur Merz, dass der ambulante Eingriff so gut gelungen ist. Das Bein ist nach kurzer Rekonvaleszenz wieder voll belastbar und der Patient kann seine Arbeit in der Stadtgärtnerei schmerzfrei verrichten. „Ich möchte Ihnen sehr danken dafür“, so Hussein an die Adresse der beiden Ärzte.
Als der junge Mann erzählte, wie er 2015 während eines 48-stündigen Bombardements auf der Suche nach einem Luftschutzkeller beschossen wurde, viermal von Granatsplittern getroffen auf der Straße liegen blieb und aufgrund seiner schweren Verletzungen zwei Tage bewusstlos war, steht den beiden Klinikärzten das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Das ist ungeheuerlich und ich möchte gerne mal wissen, wer von denen, die in Deutschland Stimmung gegen geflüchtete Menschen machen, unter solchen Umständen in einem Bürgerkriegsland bleiben möchte“, erregt sich Suckel über die populistisch geführte Debatte der „Alternative für Deutschland (AfD) in Sachen „Flüchtlinge“.
Hussein wurde eigenen Angaben zufolge nach dem heftigen Raketenangriff von Ärzten direkt vor Ort in einer Seitenstraße operiert. Nur das besagte „Vollmantelgeschoss“, das von einem Maschinengewehr stammen könnte, blieb zunächst unentdeckt. „Durch die Umstände im Krieg mussten bei uns die Ärzte immer improvisieren“, erinnert sich der Syrer zurück.
Aus Angst davor, er könnte ebenfalls von den Streitkräften al-Assads eingezogen werden, flüchtete Hussein dann ein halbes Jahr nach diesem Vorfall allein in Richtung Europa. Über die Türkei und Griechenland kam er nach Deutschland, seit drei Jahren wohnt er in Aulendorf. Hussein lernte rasch Deutsch und fand eine Anstellung bei der Stadt. „Es gefällt mir hier wirklich gut“, sagt er. Mit seiner Familie hält er via Skype Kontakt, aber er vermisst sie natürlich. Zurück nach Damaskus kann er jedoch nicht mehr, und so bleibt das Internet seine einzige Verbindung nach Syrien.
Und eben dieses denkwürdige Geschoss, das ihm Suckel zum Abschied in einem kleinen Plastikbecher mit grünem Deckel überreichte.