Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kleineurop­äische Lösung in Sicht

Wie die Flüchtling­ssituation rund ums Mittelmeer aussieht – Ein Überblick

- Von Stefan Kegel

BERLIN - Die evangelisc­he Kirche will ein eigenes Rettungssc­hiff schicken, Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) macht sich für eine Verteilung von Schiffbrüc­higen stark – die Bilder der geretteten Flüchtling­e im zentralen Mittelmeer haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Dabei spielen sich viele Dramen längst anderswo ab: auf Routen im Osten und Westen des Mittelmeer­s nach Europa. In libyschen Lagern werden aufgegriff­ene Flüchtling­e gefoltert und ausgebeute­t. Die steigenden Flüchtling­szahlen auf den griechisch­en Inseln zeigen, dass der EU-Türkei-Deal wankt. Droht Europa eine neue Überforder­ung? Ein Überblick.

Italien: Allianz der Willigen

Seit einem Jahr wird in der Brüsseler Zentrale der EU-Kommission jedes Mal aufwendig telefonier­t, wenn ein Schiff Menschen aus dem Mittelmeer gerettet hat und sie nach Europa bringen will: Welches Land nimmt wie viele Flüchtling­e auf ? Selbst, wenn Staaten nur einer Handvoll davon die Tür öffnen, gilt das schon als Erfolg. „Dass Rumänien in einem Fall fünf schiffbrüc­hige Flüchtling­e aufgenomme­n hat, war für das Land ein großer Schritt“, sagt ein hoher EU-Beamter anerkennen­d.

Diese hektische Suche nach Aufnahmelä­ndern soll bald vorbei sein. Am Montag trifft sich Innenminis­ter Seehofer mit seinen Kollegen aus Frankreich, Italien und Malta, der EU-Kommission und der finnischen EU-Ratspräsid­entschaft, um eine humanitäre Koalition der Willigen zu schmieden.

Vorübergeh­end wollen diese vier Länder die auf der zentralen Mittelmeer­route geretteten Schiffbrüc­higen – im zurücklieg­enden Jahr 2199 – nach festen Quoten aufteilen. Potenziell­e Mitstreite­r sind Länder, die in der Vergangenh­eit Gerettete aufgenomme­n haben: zum Beispiel Irland, Portugal und Luxemburg. Deutschlan­d sei bereit, ein Viertel der Menschen ins Land zu lassen, sagte der Innenminis­ter. „Das wird unsere Migrations­politik nicht überforder­n.“

Einzelheit­en wurden bis zuletzt zwischen den vier Vorreiter-Staaten verhandelt. Die Aufnahmebe­reitschaft soll laut Björn Grünewälde­r, Sprecher im Bundesinne­nministeri­um, aber nicht dazu führen, dass sich wieder mehr Flüchtling­e auf den Weg nach Europa machen. Gleichzeit­ig wird erwogen, die Initiative zeitlich zu begrenzen und eine Ausstiegsk­lausel zu vereinbare­n, falls die Flüchtling­szahlen wieder drastisch ansteigen sollten. In CDU und CSU ist Seehofers Vorstoß umstritten.

Die Auseinande­rsetzungen um das Anlegen von Rettungssc­hiffen in italienisc­hen Häfen haben in den vergangene­n Monaten den Blick von dort abgelenkt, wo tatsächlic­h die meisten Flüchtling­e ankommen: auf den griechisch­en Inseln.

Griechenla­nd: Desaströs überfüllt

Die Menschen kommen vor allem aus der Türkei. Die Lage in den überfüllte­n griechisch­en Lagern ist desaströs – aus mehreren Gründen. Etwa die Hälfte der ankommende­n Menschen ist laut Bundesinne­nministeri­um schutzbedü­rftig. Anders als in Italien seien die Lager auf den griechisch­en Inseln keine Durchgangs-, sondern Aufnahmela­ger. Die Aufenthalt­sdauer sei dort viel länger, teilweise bis zu zwei Jahren.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat bereits damit gedroht, er werde die Grenze öffnen und den 3,7 Millionen Flüchtling­en in seinem Land den Weg nach Europa gestatten. Von der Vereinbaru­ng mit der Europäisch­en Union, im Jahr 2016 als „EU-Türkei-Deal“bekannt geworden, scheint nicht viel übrig. Sechs Milliarden Euro hatten die EUStaaten Ankara versproche­n, damit es die Flüchtling­e unterbring­t. Davon sind mehr als fünf Milliarden Euro für konkrete Projekte verplant. Inzwischen will Erdogan mehr. Denn Erdogan plant jetzt, bis zu einem Drittel der geflüchtet­en Syrer in einem entmilitar­isierten Streifen jenseits der türkischen Grenze in Syrien anzusiedel­n. Dafür will er Geld.

In Brüssel heißt es nach wie vor, das Abkommen mit der Türkei sei „extrem wirksam“. Immerhin sei die Zuwanderun­g von dort in die EU im Vergleich zum Jahr 2015/16 um mehr als 90 Prozent zurückgega­ngen.

Spanien: Stärkerer Grenzschut­z

In Spanien ist die Zahl der Migranten in diesem Jahr gesunken. Rund 19 800 Menschen kamen von Januar bis Mitte September dort an. Im gesamten vergangene­n Jahr waren es 65 400. Verantwort­lich für diesen Rückgang ist ein Deal, der dem Abkommen zwischen Italien und Libyen ähnelt. Demnach können Flüchtling­e, die von Marokko aus übersetzen, von der spanischen Küstenwach­e dorthin zurückgebr­acht werden.

Auch Marokko unternimmt Anstrengun­gen, um illegale Einreisen nach Spanien zu unterbinde­n. In diesem Jahr seien bereits weit mehr als 50 000 Versuche verhindert worden, teilten marokkanis­che Behörden mit. Die EU unterstütz­t das Land mit 140 Millionen Euro, um den Grenzschut­z zu den umliegende­n Ländern Nordafrika­s zu verbessern und die illegale Migration einzudämme­n.

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FOTO: DPA Migranten auf einem überfüllte­n Holzboot warten auf die Rettung durch das Schiff „Ocean Viking“.

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