Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kleineuropäische Lösung in Sicht
Wie die Flüchtlingssituation rund ums Mittelmeer aussieht – Ein Überblick
BERLIN - Die evangelische Kirche will ein eigenes Rettungsschiff schicken, Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) macht sich für eine Verteilung von Schiffbrüchigen stark – die Bilder der geretteten Flüchtlinge im zentralen Mittelmeer haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Dabei spielen sich viele Dramen längst anderswo ab: auf Routen im Osten und Westen des Mittelmeers nach Europa. In libyschen Lagern werden aufgegriffene Flüchtlinge gefoltert und ausgebeutet. Die steigenden Flüchtlingszahlen auf den griechischen Inseln zeigen, dass der EU-Türkei-Deal wankt. Droht Europa eine neue Überforderung? Ein Überblick.
Italien: Allianz der Willigen
Seit einem Jahr wird in der Brüsseler Zentrale der EU-Kommission jedes Mal aufwendig telefoniert, wenn ein Schiff Menschen aus dem Mittelmeer gerettet hat und sie nach Europa bringen will: Welches Land nimmt wie viele Flüchtlinge auf ? Selbst, wenn Staaten nur einer Handvoll davon die Tür öffnen, gilt das schon als Erfolg. „Dass Rumänien in einem Fall fünf schiffbrüchige Flüchtlinge aufgenommen hat, war für das Land ein großer Schritt“, sagt ein hoher EU-Beamter anerkennend.
Diese hektische Suche nach Aufnahmeländern soll bald vorbei sein. Am Montag trifft sich Innenminister Seehofer mit seinen Kollegen aus Frankreich, Italien und Malta, der EU-Kommission und der finnischen EU-Ratspräsidentschaft, um eine humanitäre Koalition der Willigen zu schmieden.
Vorübergehend wollen diese vier Länder die auf der zentralen Mittelmeerroute geretteten Schiffbrüchigen – im zurückliegenden Jahr 2199 – nach festen Quoten aufteilen. Potenzielle Mitstreiter sind Länder, die in der Vergangenheit Gerettete aufgenommen haben: zum Beispiel Irland, Portugal und Luxemburg. Deutschland sei bereit, ein Viertel der Menschen ins Land zu lassen, sagte der Innenminister. „Das wird unsere Migrationspolitik nicht überfordern.“
Einzelheiten wurden bis zuletzt zwischen den vier Vorreiter-Staaten verhandelt. Die Aufnahmebereitschaft soll laut Björn Grünewälder, Sprecher im Bundesinnenministerium, aber nicht dazu führen, dass sich wieder mehr Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machen. Gleichzeitig wird erwogen, die Initiative zeitlich zu begrenzen und eine Ausstiegsklausel zu vereinbaren, falls die Flüchtlingszahlen wieder drastisch ansteigen sollten. In CDU und CSU ist Seehofers Vorstoß umstritten.
Die Auseinandersetzungen um das Anlegen von Rettungsschiffen in italienischen Häfen haben in den vergangenen Monaten den Blick von dort abgelenkt, wo tatsächlich die meisten Flüchtlinge ankommen: auf den griechischen Inseln.
Griechenland: Desaströs überfüllt
Die Menschen kommen vor allem aus der Türkei. Die Lage in den überfüllten griechischen Lagern ist desaströs – aus mehreren Gründen. Etwa die Hälfte der ankommenden Menschen ist laut Bundesinnenministerium schutzbedürftig. Anders als in Italien seien die Lager auf den griechischen Inseln keine Durchgangs-, sondern Aufnahmelager. Die Aufenthaltsdauer sei dort viel länger, teilweise bis zu zwei Jahren.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat bereits damit gedroht, er werde die Grenze öffnen und den 3,7 Millionen Flüchtlingen in seinem Land den Weg nach Europa gestatten. Von der Vereinbarung mit der Europäischen Union, im Jahr 2016 als „EU-Türkei-Deal“bekannt geworden, scheint nicht viel übrig. Sechs Milliarden Euro hatten die EUStaaten Ankara versprochen, damit es die Flüchtlinge unterbringt. Davon sind mehr als fünf Milliarden Euro für konkrete Projekte verplant. Inzwischen will Erdogan mehr. Denn Erdogan plant jetzt, bis zu einem Drittel der geflüchteten Syrer in einem entmilitarisierten Streifen jenseits der türkischen Grenze in Syrien anzusiedeln. Dafür will er Geld.
In Brüssel heißt es nach wie vor, das Abkommen mit der Türkei sei „extrem wirksam“. Immerhin sei die Zuwanderung von dort in die EU im Vergleich zum Jahr 2015/16 um mehr als 90 Prozent zurückgegangen.
Spanien: Stärkerer Grenzschutz
In Spanien ist die Zahl der Migranten in diesem Jahr gesunken. Rund 19 800 Menschen kamen von Januar bis Mitte September dort an. Im gesamten vergangenen Jahr waren es 65 400. Verantwortlich für diesen Rückgang ist ein Deal, der dem Abkommen zwischen Italien und Libyen ähnelt. Demnach können Flüchtlinge, die von Marokko aus übersetzen, von der spanischen Küstenwache dorthin zurückgebracht werden.
Auch Marokko unternimmt Anstrengungen, um illegale Einreisen nach Spanien zu unterbinden. In diesem Jahr seien bereits weit mehr als 50 000 Versuche verhindert worden, teilten marokkanische Behörden mit. Die EU unterstützt das Land mit 140 Millionen Euro, um den Grenzschutz zu den umliegenden Ländern Nordafrikas zu verbessern und die illegale Migration einzudämmen.