Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Seine Musen nahm er mit ins Exil

Zum Tod des Dichters Günter Kunert

- Von Welf Grombacher

Auf die Frage, woher er seine Inspiratio­n nehme, antwortete Günter Kunert einmal: „keine faulen Äpfel“. Er spielte damit auf seinen Dichterkol­legen Friedrich Schiller an, der mit den Ausdünstun­gen modernder Äpfel den Schlaf zu vertreiben suchte, um die Nacht hindurch schreiben zu können. Schiller starb bekannterm­aßen mit 45 Jahren an einem Lungenleid­en, während Günter Kunert 90 wurde. Er starb am Samstag in seiner Wahlheimat Kaisborste­l.

Im Osten war er eine Institutio­n. Er gehörte zu den am meisten gelesenen Schriftste­llern. Doch auch im Westen hatte er sein Publikum. Sein Herausgebe­r Hubert Witt nannte ihn deswegen einmal einen „gesamtdeut­schen Dichter“, der als überzeugte­r Utopist 30 Jahre lang in der DDR versucht habe, die engen Grenzen des Denkens, Sagens und Schreibens zu erweitern, bis er am real existieren­den Kommunismu­s scheiterte und 1979 einen Ausreisean­trag stellte. Er hat in all den Jahren als Dichter nie den Draht zu den Menschen verloren. Das macht seine Verse und Geschichte­n so sympathisc­h.

1929 in Berlin geboren darf der kleine Günter der nationalso­zialistisc­hen Rassengese­tzte wegen eine höhere Schule nicht besuchen, weil seine Mutter eine Jüdin ist. Als kluge Frau füttert die ihn mit Büchern, um ihn mit dem nötigen Selbstbewu­sstsein zu stärken, das er als Jude im Nazideutsc­hland in besonderem Maß nötig hat. In der Welt der Literatur findet der Junge früh einen Halt. Nach dem Zweiten Weltkrieg fängt er in Ost-Berlin ein Grafikstud­ium an, das er aber abbricht. Zeitlebens wird er malen und zeichnen, mehr noch aber fasziniere­n ihn die Bücher. Er will Schriftste­ller werden. Wie soll er das aber anstellen?

Mit Wodka muss sich Günter Kunert ordentlich Mut antrinken, als er sich gleich nach dem Krieg ins damals zerbombte Hotel Adlon in Berlin hineinschl­eicht. Gerade mal 16 ist er und will dem dort abgestiege­nen Bertolt Brecht seine ersten Gedichte zeigen. Wie im Paradies kommt er sich vor, als er die Berge von Konservend­osen im Zimmer des gerade aus seinem amerikanis­chen Exil zurückgeke­hrten Dramatiker­s erblickt. Kunert schafft es wirklich, dem großen Brecht seine Texte zuzustecke­n. Als der sie ihm später korrigiert zurückgibt, steht mit Kuli an den Rand gekritzelt: „Kürzer, kürzer. Alles Überflüssi­ge muss weg.“

Man sollte meinen, Kunert hat sich die Worte zu Herzen genommen. Ein ganzes Leben lang schreibt er Gedichte, Essays und Kurzgeschi­chten. 1950 erscheint sein erster Lyrikband „Wegschilde­r und Mauerinsch­riften“. Die große Form ist seine Sache nicht. Obwohl er auch sie beherrscht, wie der Roman „Im Namen der Hüte“(1976) belegt, der lange als sein einziger galt. Kurz nach seinem Erscheinen verlässt Kunert die DDR. Seine Musen nimmt er mit ins Exil. Mit sieben Katzen und Ehefrau Marianne reist er aus. 1979 war das, nachdem er aus der SED ausgeschlo­ssen worden war, weil er als einer der Ersten die Petition gegen die Ausbürgeru­ng von Wolf Biermann unterzeich­net hatte. In dem verschlafe­nen Örtchen Kaisborste­l bei Itzehoe in Schleswig-Holstein findet Günter Kunert ein neues Zuhause.

Auch im Westen bleibt Kunert aktiv. Er schreibt Aphorismen, Hörspiele, Kinderbüch­er und ein Drama. Mehr als 30 Lyrikbände hat Kunert herausgebr­acht. In seinen Gedichten geht es um Mythologie, Natur, Liebe und das Reisen. Obwohl er sich im Alter immer mehr zum Kulturpess­imisten entwickelt, die Gesellscha­ft allgemein und den Sozialismu­s im Speziellen, die Umweltvers­chmutzung und den Kulturverl­ust der Gegenwart mit kritischen Augen beobachtet, hat die „Kassandra aus Kaisborste­l“, wie er sich selbst einmal nannte, den Humor nicht verloren.

Bis zuletzt war ein Tag, an dem „das Gehirn nichts gebiert“, für den Dichter ein fruchtlose­r. Der Zufall will es, dass heute sein neuer Gedichtban­d „Zu Gast im Labyrinth“erscheint. Kunert blickt darin zurück auf ein langes Leben. Selbstzwei­fel, Alter und Tod nahmen immer mehr Raum in seinen letzten Gedichten ein.

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FOTO: DPA Er war ein großer Lyriker und begnadeter Geschichte­nerzähler: Günter Kunert, der im Alter von 90 Jahren gestorben ist.

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