Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Erschüttert
Eine Erdbebenserie verunsichert die Menschen am Bodensee – Forscher tun sich auf der Suche nach der Ursache schwer
DETTINGEN - Ein normaler Herbstnachmittag in Dettingen. Kaum Autos, kaum Passanten, wenige Kinder auf dem Spielplatz, ein kläffender Hund und eine davonhuschende Katze. Das von Streuobstwiesen umgebene 3000-SeelenDorf auf dem Bodanrück am westlichen Bodensee wirkt verschlafen – so wie meistens eben. Etwas ist aber dennoch anders. Das hat mit der Gefühlslage der Menschen zu tun. „Kommt ein neues Erdbeben? Wenn ja, wie stark wird es sein?“, fragt Peter Kopp, Chef der einzigen Bäckerei des Dorfs. Die Situation sei beunruhigend. Norman Odersky vom Hotel Traube meint: „Was mich am meisten beschäftigt, ist die Ursache für die Beben.“Bisher habe ihm dies niemand erklären können. „Die Ungewissheit treibt einen schon um“, betont der Mann.
Was ist geschehen? Knapp ausgedrückt wurde Dettingen in diesem Sommer von mehreren spürbaren Erdbeben heimgesucht. „Na ja, es hat halt einen Knall gegeben – so als sei ein Auto gegen die Hauswand gefahren“, berichtet Klaus Demmler. Der Maschinenschlosser und angehende Rentner beschreibt den bisherigen Höhepunkt der Ereignisse. Dieser war am 30. Juli, dem ersten Dienstag der großen Ferien. Nachts um 1.17 Uhr ereignete sich ein Beben mit der Magnitude 3,7. Dies ist für den Bodenseeraum viel, auch wenn es noch bei weitem nicht ausreicht, um Städte und Dörfer zu zerlegen.
Ernst wird es im Allgemeinen erst ab einer Magnitude von fünf bis sechs. Das zur Stadt Konstanz gehörende Dorf wurde aber dennoch merklich durchgeschüttelt. Demmlers Frau sagt, sie hätte befürchtet, „der Dachboden komme runter“. Beim Nachbarn seien Bilder von der Wand gefallen. Mancher Dettinger hätte vor Angst die restliche Nacht auf der Straße verbracht oder im Auto geschlafen. Eine junge Passantin bestätigt dies: „Meine ganze Straße war in dieser Nacht draußen.“
Wenige Minuten davor hatte es bereits spürbar gebebt, ebenso bewegte sich die Erde noch einige Male danach bis zum Morgen. Aber das war eben nicht alles. In den Wochen darauf folgten fünf weitere Beben mit einer Magnitude von 3,0 oder größer – zuletzt am 5. September. Das Epizentrum wurde jeweils bei Dettingen in einer Tiefe von drei bis fünf Kilometern geortet. Gespürt wurden die Erschütterungen im Umkreis von 20 Kilometern. Abgesehen von der emotionalen Verunsicherung diverser Einheimischer scheint jedoch nichts Besonderes passiert zu sein. „Von größeren Schäden an Gebäuden oder Ähnlichem ist mir nichts bekannt geworden“, sagt Ortsvorsteher Rober Tscheulin. In Gesprächen auf der Straße ist von vereinzelten Rissen in Wänden die Rede. Ob in diesen Fällen aber tatsächlich die bebende Erde dafür verantwortlich ist, muss offenbleiben.
Wie andere Menschen im Dorf zeigt sich auch Tscheulin beunruhigt. Er verweist darauf, dass ihm Bilder aus L’Aquila durch den Kopf schießen. Er spielt damit auf eine der jüngeren Erdbebenkatastrophen in Europa an. Die Stadt in den italienischen Abruzzen war 2009 zerstört worden. Über 300 Menschen starben. Geologen verzeichneten eine Magnitude von 5,8. Andererseits zeigt sich der Ortsvorsteher wenig überrascht von den Ereignissen: „Wir liegen ja in einem Gebiet, das durchaus als erdbebengefährdet gilt und auch als solches eingestuft ist.“In der Tat: Die Region gilt als Erdbebenzone zwei in einer dreiteiligen Gliederung. Für neue Gebäude gelten verschärfte Bauvorschriften für die Stabilität. Großräumig gesehen stößt hier die afrikanische Kontinentalplatte auf die eurasische. Diesem Umstand verdanken unter anderem die Alpen ihre Entstehung – die mächtige Kollision hat sie aufgetürmt. Erdbebenwarten verzeichnen tagtäglich Erschütterungen. In der Regel sind es aber solche, die die Menschen gar nicht mitbekommen.
So berichtet der Schweizer Erdbebendienst im Fall Dettingen, dass das letzte dort spürbare Erdbeben 43 Jahre zurückliegt. Weshalb der Bodanrück in jüngster Vergangenheit als kaum seismisch aktiv galt. Eine Ruhe vor dem Sturm? Für die Dettinger verstärkt dies das unheimliche Gefühl. Zu all den anderen Fragen, die ihnen auf den Nägeln brennen, würden sie zudem gerne wissen, weshalb es gleich eine ganze Reihe von Beben gab. Wie es sich zeigt, sind die Antworten darauf schwierig – oder sogar unmöglich. „Was genau die Erdbeben verursacht hat, muss anhand der aktuellen Daten weiter untersucht werden“, sagt Stefan Stange vom Landeserdbebendienst in Freiburg im Breisgau. Ganz allgemein meint der Wissenschaftler aber, solche Serien seien die Regel. „Ungewöhnlich wäre also ein alleiniges Erdbeben.“
Die jüngsten vergleichbaren Ereignisse im westlichen Bodenseegebiet hat es im Spätherbst 2016 gegeben. Betroffen war die HegauGemeinde Hilzingen auf der westlichen Seite des Hohentwiels, ungefähr 30 Kilometer Luftlinie von Dettingen entfernt. Es kam auch dort über Wochen zu mehreren spürbaren Beben. Als Ursache meldete der Landeserdbebendienst „Spannungen im Gestein“. Diese würden zu ruckartigen Verschiebungen im Untergrund führen. Warum es aber gerade damals zu einer solchen Häufung gekommen war, blieb offen. Mit anderen Worten: Die Hilzinger sind drei Jahre später nicht schlauer als jetzt die Dettinger. Von wissenschaftlicher Seite wird zudem betont, aus den zuletzt aufgetretenen Ereignissen lasse sich kein Verhalten für die Zukunft prognostizieren. „Erdbeben lassen sich nicht im Detail vorhersagen“, heißt es. Dies betrifft auch mögliche Katastrophenkategorien. Schadens-erdbeben seien in der Großregion nicht völlig ausgeschlossen, wird beispielsweise vom Landeserdbebendienst mitgeteilt. 1978 hatte es die Gegend von Albstadt auf der Schwäbischen Alb getroffen. Die Problemzone Zollerngraben verläuft dort. Ein Beben der Stärke 5,7 verursachte Schäden in Höhe von umgerechnet 150 Millionen Euro. 43 Jahre zuvor war Bad Saulgau dran gewesen. Die Magnitude lag zwischen 5,3 und 5,8. Tausende Gebäude wurden damals beschädigt. Auch eine echte Großkatastrophe lässt sich in der Nachbarschaft finden – wenn auch nur in historischen Annalen. Betroffen war die Schweizer Stadt Basel am Rheinknie zwischen Hoch- und Oberrhein. Im Jahr 1356 kam es dort zu einem Erdbeben der Magnitude sechs bis 7,1 – je nach heutiger Berechnungsart. Die Erschütterungen und ein nachfolgender Großbrand zerstörten die Stadt zu großen Teilen. Bis zu 2000 Menschen starben.
Das Hoch- wie Oberrheingebiet gehört wie der Bodenseeraum zur Erdbebenzone zwei. Seismisch aktive Grabensysteme verlaufen dort. Besorgte Menschen erinnern in diesem Zusammenhang daran, dass es im weiteren Umfeld von Basel mehrere Atomkraftwerke gibt, darunter auch zwei Alt-Standorte aus den 1960- und 1970er-Jahren: Beznau im Schweizer Kanton Aargau und Fessenheim im Oberelsass. Bei beiden wurde der Erdbebenschutz an den Werten des historischen Basler Bebens ausgerichtet. Zuwenig, monieren Kernkraftgegner – zumal Schweizer Forschungen 2009 ergaben, dass auch höhere Magnituden möglich seien. Des Weiteren könnten durch besondere geologische Verhältnisse Erschütterungen schwerer ausfallen als Messzahlen vermuten ließen. Bei Fessenheim kommt hinzu, dass der am Kraftwerksrand verlaufende Rheindamm als heikel gilt. Würde er brechen, wäre das Werksgelände überflutet – mit womöglich haarsträubenden Folgen.
„Jetzt wollen wir doch nicht den Teufel an die Wand malen“, sagt Lena Walter mit Blick auf diese Problematik. Sie ist mit ihren zwei kleinen Kindern auf dem Spielplatz bei der Dettinger Schule. Wenigstens der Nachwuchs habe von den nächtlichen Beben nichts mitbekommen: „Beide haben geschlafen.“Walter selber ist hochgeschreckt. Die Mutter betont aber ausdrücklich, dass sie jetzt nicht in einer Schockstarre verharre. Das Leben gehe normal weiter – wenn auch vielleicht nicht ganz normal. Lena Walter meint zum Abschied: „Ein ungutes Gefühl bleibt.“
So oft wackelt die Erde: Alle Erdbeben in der Region seit 2011 in einer Animation: www.schwäbische.de/ bebenchronik
„Es hat halt einen Knall gegeben – so als sei ein Auto gegen die Hauswand gefahren.“Klaus Demmler, angehender Rentner und Einwohner von Dettingen