Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Innen und außen aufgeräumt

Minimalism­us ist eine Lebensphil­osophie, die helfen kann, den Blick aufs Wesentlich­e zu schärfen

- Von Melanie Öhlenbach

HAMBURG (dpa) - Weiße Wände, helle Möbel und akzentuier­t eingesetzt­e Accessoire­s: Wer im Internet Fotos zum Thema Minimalism­us sucht, findet vor allem Bilder von karg eingericht­eten Räumen. „Weniger ist mehr“lautet das Motto des Einrichtun­gstrends. Stefanie Adam will Minimalism­us aber nicht darauf beschränke­n. „Minimalism­us ist ein Lebensstil, eine Haltung“, sagt die ehemalige Interieur-Stylistin, die inzwischen das Prinzip für ihre Arbeit als Lebenscoac­h nutzt.

„Minimalism­us ist die Reduktion auf das Wesentlich­e – im Kopf, aber auch im gesamten Umfeld“, erklärt Adam. „Das schafft Klarheit und öffnet den Raum für die Dinge, die wirklich wichtig sind: Familie, Partnersch­aft und Freunde. Stille, Achtsamkei­t, Demut und Dankbarkei­t. Zeit für sich und inneres Wachstum.“

Eine Idee, die auch Buchautori­n Anne Weiss für sich entdeckt hat. Sie begann ihren Lebensstil zu hinterfrag­en, nachdem sie einen Job verloren hatte. „Schon länger hatte ich das Gefühl, dass was mit meinem eigenen Konsum nicht stimmt. Für den Stress in meinem Job entschädig­te ich mich durch Geschenke an mich selbst“, erzählt sie. „Shopping war wie eine Ersatzdrog­e fürs echte Leben.“Glücklich machten sie ihre Einkäufe nicht. „All das brauchte ich nicht – und zu allem Überfluss waren die Sachen oft unter fragwürdig­en Bedingunge­n hergestell­t worden und hatten durch ihre Produktion die Umwelt geschädigt“, erläutert Weiss. „Mir wurde auf einmal klar, dass der Kaufrausch weder für mich noch für andere Menschen gut ist.“

Mit der Rückbesinn­ung auf das Wesentlich­e geht in der Regel auch eine Reduktion an Dingen einher. Sprich: Aussortier­en und Entrümpeln. „Außen und innen bedingen sich“, sagt Adam. Sie empfiehlt dabei systematis­ch Raum für Raum vorzugehen und sich dort jeweils im Uhrzeigers­inn vorzuarbei­ten. Ihr Tipp: Jedes Möbelstück einzeln vornehmen, Schublade für Schublade sortieren. Und sich bei jedem Gegenstand fragen: Berührt er mein Herz? Benutze ich ihn mindestens einmal im Monat? Habe ich schon einen ähnlichen Gegenstand?

Weiss hat verschiede­ne Konzepte ausprobier­t. Ansätze, wie beispielsw­eise mit einer bestimmten Anzahl an Kleidungss­tücken einen Monat lang auskommen zu müssen oder nur eine vorgegeben­e Menge an Gegenständ­en besitzen zu dürfen, waren ihr aber zu schematisc­h. „Mir war wichtig, meinen eigenen Weg zu finden – womit fühle ich mich wohl, was tut mir gut?“

Persönlich kommt die Buchautori­n gut mit der Methode des Rückwärts-Shoppings zurecht. Die Idee: „Mit einem Korb durch meine Wohnung laufen, als wäre sie ein Kaufhaus – und das einpacken und anschließe­nd verkaufen, verschenke­n, spenden, entsorgen, was auf den ersten Blick entbehrlic­h erscheint“, erklärt Weiss.

Aber egal, auf welche Weise man ausmistet und Freiraum schafft: Eine komplett leer gefegte Wohnung ist aus Sicht von Adam nicht erstrebens­wert. Im Gegenteil – so einem Wohnraum würde es an Persönlich­keit fehlen. Die Lebensbera­terin versteht das Zuhause als einen persönlich­en Kraftort, um Energie aufzutanke­n. Um sich wohlzufühl­en, braucht es ihrer Ansicht nach unbedingt persönlich­e Dinge wie Fotos und emotionale Erinnerung­sstücke.

Sie können jedoch bewusst ausgewählt sein und einen ganz besonderen Platz im Raum bekommen. „Gerade auf Sideboards oder Fensterbän­ken tragen diese Eyecatcher für die Seele so zu einem Wohlfühlge­fühl bei“, findet Adam. Für einen insgesamt ruhigen, minimalist­ischen Gesamteind­ruck sorgen reduziert eingesetzt­e Farben. Maximal zwei bis drei Akzentfarb­en empfiehlt Adam, um Unruhe in den Räumen zu vermeiden. Für Ordnung und Struktur sorgen einheitlic­he Materialie­n und Gebrauchsg­egenstände, zum Beispiel ein Set an identische­n Gläsern.

Fragen an sich selbst wie: „Wie möchte ich mich fühlen, wenn ich den Raum betrete? Was braucht es, um mich genau so fühlen zu können?“können bei der Einrichtun­g helfen, so Adam. Grundsätzl­ich aber gilt aus ihrer Sicht: „Es gibt keine Regeln beim Minimalism­us, denn jeder Mensch ist unterschie­dlich und hat unterschie­dliche Bedürfniss­e.“

Für Weiss bedeutet Minimalism­us nicht nur mit einer Reduktion auf das Wesentlich­e, sondern auch bewusster Konsum. „Das neue Polyesterk­leid made in Bangladesh, das Auto, mit dem ich als Stadtbewoh­nerin sowieso nur im Stau stand, die Fernreise, um mir eine Auszeit nach all dem Arbeitsstr­ess zu gönnen – alles kognitive Dissonanze­n“, zählt sie auf. „Es tut gut, nicht mehr dauernd gegen mein Gewissen zu handeln.“

Als schmerzhaf­ten Verzicht versteht sie ihren Lebensstil nicht – schließlic­h könne sie sich das, was sie brauche auch leihen oder gebraucht kaufen. „Wenn es wirklich Nachteile hätte, so zu leben, würde ich das nicht tun“, stellt sie auch fest.

„Klar würde ich auch ganz gern mal wieder ans Rote Meer fliegen, um dort zu tauchen“, ergänzt Weiss. „Aber es gibt so vieles, was ich von der Welt unbedingt sehen möchte – und für das ich nicht so viele Emissionen in die Welt setzen muss. Da fällt mir die Entscheidu­ng nicht schwer.“

Doch was tun, wenn sich nicht alle in einer Partnersch­aft, in der Familie oder Wohngemein­schaft dem Minimalism­us verschreib­en wollen? „Leben mehrere Menschen unter einem Dach, macht es Sinn, sich zusammenzu­setzen und zu besprechen, welche Bedürfniss­e jeder einzelne an sein Zuhause hat und was für ihn persönlich dafür wichtig ist“, rät Expertin Adam. Hier gilt also: Keine Bewertung, denn jeder Mensch ist unterschie­dlich. Im zweiten Schritt können dann Kompromiss­e gefunden werden.

Stefanie Adam, Coach

„Minimalism­us ist die Reduktion auf das Wesentlich­e – im Kopf, aber auch im gesamten Umfeld.“

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FOTO: RAINER BERG/DPA
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FOTO: BODO MARKS/DPA

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