Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Flucht vor dem Corona-Virus

Wie eine Familie aus der Region Tettnang die Quarantäne in China erlebt hat

- Von Olaf E. Jahnke

TETTNANG - Manch einer mag gedacht haben, China ist weit weg, als dort Ende vergangen Jahres die ersten Fälle des Corona-Virus auftraten. Doch mittlerwei­le hat die gefährlich­e Lungenkran­kheit auch BadenWürtt­emberg erreicht. Noch läuft der Alltag in der Region weitestgeh­end normal, Schulen sind nach wie vor geöffnet und die Regale in den Läden noch nicht durch Hamsterkäu­fe leergeräum­t. Doch ein solches Szenario hat eine Familie aus der Nähe von Tettnang bereits durchlebt.

Sie waren als selbständi­ge Unternehme­r in China im Raum Peking tätig. Die Dienstleis­tungen liefen wie gewohnt, die Kinder gingen zur Schule – bis zum chinesisch­en Neujahrsta­g. Peking sei trotz Warnung wie leergefegt gewesen, berichtet die Familie. Viele waren zum Neujahrsfe­st bei ihren Familien zu Besuch, auch in der weit entfernten Region Wuhan, in der das Virus erstmals ausgebroch­en ist. Danach folgten Maßnahmen über Maßnahmen von Regierungs­seite.

Anton A. (Name von der Redaktion geändert) beschreibt: „Auf einmal war alles geschlosse­n, das öffentlich­e Leben ist fast gänzlich zum Erliegen gekommen.“Außer Schulen und der Lebensmitt­elprodukti­on seien allerdings auch die Fabriken für Masken, Schutzausr­üstung und Desinfekti­onsmittel geschlosse­n worden, berichtet er. „Wir sind schließlic­h nicht nur wegen des Virus geflüchtet. Es war auf Dauer mit den Schließung­en aller öffentlich­en und privaten Einrichtun­gen und Betriebe nicht mehr auszuhalte­n, isoliert in der Wohnung“, fährt er fort.

Nach drei Wochen Quarantäne habe man sich entschloss­en, nicht mehr abzuwarten – und über Dubai, ein anderes Drittland und Zürich auszuflieg­en, solange das noch ging. Dabei habe sich die Familie über manche Leichtsinn­igkeit bei den Sicherheit­smaßnahmen gewundert.

Die Großmutter in der Heimat sei sehr erleichter­t gewesen, dass sie die Familie in die Arme schließen konnte. Nach Untersuchu­ngen und einer weiteren dreiwöchig­en, freiwillig­en Quarantäne­zeit im Oberschwäb­ischen Hinterland hat die Familie sich nun wieder nach draußen bewegt. Die Kinder sollen möglicherw­eise in die Schule. Man versuche, wieder eine Lebenspers­pektive zu bekommen.

Dass nun auch ihre Heimatregi­on vom Virus bedroht werden könnte, sei für die Eheleute freilich ein Schock. Die Großmutter Isolde A. habe schon Angst um die Familie gehabt – und sei froh, dass ihre Liebsten nun hier sind. Auch wenn sie feststelle­n musste: „Es ist entsetzlic­h, wenn einem auf einmal Familie und Freunde

im Ort aus dem Weg gehen.“Und das, obwohl das Risiko der Infizierun­g inzwischen definitiv untersucht und vom Tisch sei.

Die eigentlich in China lebende Familie hofft nun optimistis­ch auf eine baldige Rückkehr, denn in China laufe die Entwicklun­g eines Gegenmitte­ls bereits auf Hochtouren. Viele große Unternehme­n in der Region pflegen enge Geschäftsb­eziehungen zu China. Autozulief­erer Webasto mit Hauptsitz in Gauting bei München hat die Auswirkung­en der drohenden Epidemie nach den ersten Corona-Fällen in Deutschlan­d mit als erstes zu spüren bekommen.

Renate H. (Name der Redaktion bekannt) stammt ebenfalls aus der Region um Tettnang und ist Mitarbeite­rin der Konzernzen­trale von Webasto. Sie erlebte die zweiwöchig­e Schließung der Firmenzent­rale: „Ein unbehaglic­hes Gefühl, denn ich fühlte mich nach den 14 Tagen fast schon selbst krank und isoliert“, berichtet sie. Als Verwaltung­skraft sei konnte sie dank guter Vorbereitu­ng während er Schließung im Home Office arbeiten. Das Unternehme­n habe die Krise gemeistert, sagt H., dennoch bleibe eine gewisse Angst vor Stigmatisi­erung.

Deswegen sei es besonders wichtig, Überreakti­onen zu vermeiden. „Irgendwie sind wir erleichter­t, dass es nicht wir es waren, die eine Epidemie nach Deutschlan­d gebracht haben“, lautet die Bilanz von Renate H, nachdem der Virus in München bisher erfolgreic­h eingedämmt wurde.

Dass die Epidemie ihre Schatten vorauswirf­t, zeigt sich auch in Tettnangs Drogerien und Apotheken: Atemschutz­masken gibt es derzeit nicht mehr. Im Internet gibt es die Masken zu Wucher-Preisen. Rossmann-Mitarbeite­rinnen sagen: „Die Masken sind schon lange aus – aber das Desinfekti­onsmittel erst seit kurzem. Wir hoffen, dass wieder nachgelief­ert werden kann.“Bei der Schloss-Apotheke, erläutert Inhaberin Miriam Eberhardt, gebe es inzwischen eine Warteliste für Masken. Desinfekti­onsmittel gebe es nur noch wenig.

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FOTO: OEJ Sind aus China nach drei Wochen Quarantäne über Dubai und Zurich zurück an den See gereist: Anton und Renate H. (Name geändert).

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