Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Morde von Hanau überschatt­en Integratio­nsgipfel

Migranten fordern vor Spitzentre­ffen mehr Schutz – Widmann-Mauz schlägt „Hilfetelef­on Rassismus“vor

- Von Klaus Wieschemey­er

BERLIN - Nach den mutmaßlich rassistisc­hen Morden von Hanau will die Bundesregi­erung ein Zeichen des Dialogs setzen: Vor dem regulären elften Integratio­nsgipfel am kommenden Montag in Berlin wollen sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU), Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) und Integratio­ns-Staatsmini­sterin Annette Widmann-Mauz (CDU) mit etwa 60 Vertretern von Migranteno­rganisatio­nen im Kanzleramt treffen.

„Wir wollen eine offene Aussprache“, kündigte Widmann-Mauz am Freitag an. Es gehe darum, sich nicht nur die Sorgen anzuhören, sondern auch zu diskutiere­n – und ein Zeichen zu setzen, „dass wir zusammenge­hören und uns nicht spalten lassen“. Nach dem Anschlag und den vorherigen rechtsextr­emistische­n Morden in Halle und Kassel könne man nicht einfach zur Tagesordnu­ng übergehen, sagte sie.

In Hanau hatte ein offenbar geistig verwirrter Mann vergangene Woche mutmaßlich zunächst neun Menschen mit Migrations­hintergrun­d erschossen. Anschließe­nd tötete er seine Mutter und sich selbst. Die Bundesanwa­ltschaft geht von einer „zutiefst rassistisc­hen Gesinnung“des Mannes aus. Widmann-Mauz war nach dem Anschlag nach Hanau gereist: „Die Gespräche, die ich vor Ort geführt habe, gehen mir bis zum heutigen Tag nicht aus dem Kopf“, sagte sie.

Dass das Gespräch allzu harmonisch wird, ist nicht zu erwarten, denn viele Opfer von Rassismus fühlen sich nicht ausreichen­d gehört. Gerade erst hat die Bundeskonf­erenz der Migranteno­rganisatio­nen einen „Masterplan gegen Rechtsextr­emismus“gefordert. Das Bündnis sieht sich als Stimme des knappen Viertels der deutschen Bevölkerun­g mit Migrations­hintergrun­d.

In einem offenen Brief an Merkel beklagt das Bündnis einen weit verbreitet­en Rassismus. „Die Würde des Menschen ist nicht gleicherma­ßen unantastba­r für alle Menschen in Deutschlan­d 2020. 19 Millionen Menschen sind in Schule, Ausbildung, am Arbeits- und Wohnungsma­rkt nachweisli­ch teils massiven strukturel­len Diskrimini­erungen ausgesetzt“, heißt es im Schreiben. Diese Menschen „verlieren das Vertrauen in eine Verfassung, die sie nicht schützt“, beklagen die Migranten. Zumal dieses knappe Viertel der Gesellscha­ft durch keinen einzigen Minister im Kabinett vertreten ist.

Widmann-Mauz sieht ebenfalls Handlungsb­edarf, nicht nur bei der Frage, ob das ungelenke Wort „Migrations­hintergrun­d“angesichts der Vielfalt der Menschen in Deutschlan­d überhaupt noch zeitgemäß ist. Die Angst vieler Menschen sei „leider Gottes berechtigt“, erklärte die Staatsmini­sterin. Sie schlägt ein unabhängig­es „Hilfetelef­on Rassismus“vor, das Opfer und Angehörige nach dem Vorbild des Hilfetelef­ons „Gewalt

gegen Frauen“berät. Angesichts der Bedrohung durch den Rechtsextr­emismus brauche es zudem mehr verlässlic­he Anlaufstel­len für Opfer rechter Gewalt mit auskömmlic­her Finanzieru­ng. Bislang laufen viele Beratungen auf Projektbas­is und hangeln sich von Befristung zu Befristung. Hilfetelef­on und Beratung könnten zusammen ein Monitoring liefern, wie es tatsächlic­h um Rassismus und Rechtsextr­emismus im Land bestellt ist.

Auch müsse geprüft werden, ob die nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle auf den Weg gebrachten Maßnahmen zur Bekämpfung von Rechtsextr­emismus im Punkt Islamfeind­lichkeit „nachjustie­rt“werden. Widmann-Mauz ist zudem für den Aufbau einer Expertenko­mmission zum Thema Muslimfein­dlichkeit.

Dabei mache das Einwanderu­ngsland Deutschlan­d auch Fortschrit­te: Als Beispiel nannte Widmann-Mauz das am Sonntag in Kraft tretende Einwanderu­ngsgesetz für Fachkräfte. Doch das reiche nicht: „Wir müssen jetzt auch zum Integratio­nsland wachsen, denn ansonsten bleibt ein solches Gesetz nur ein Rumpf “, sagte sie. Die Integratio­n soll dabei früh beginnen, idealerwei­se bereits vor der Zuwanderun­g im Herkunftsl­and. Dort sollen Auswanderw­illige über das Leben in Deutschlan­d sowie Chancen und Risiken aufgeklärt werden. Das war auch Hauptthema des geplanten elften Integratio­nsgipfels. Bis zu den Morden von Hanau.

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FOTO: FRANK RUMPENHORS­T/DPA Nach den Morden von Hanau will die Bundesregi­erung Menschen besser vor Rechtsextr­emismus und Rassismus schützen.

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