Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Hauptsache, irgendwie gewinnen

Der deutsche Beitrag für den ESC ist vor allem auf ein internatio­nales Publikum zugeschnit­ten

- Von Stefan Rother

RAVENSBURG - Deutschlan­d will beim diesjährig­en Eurovision Song Contest (ESC) auf Sieg spielen – oder zumindest auf einen vorderen Platz. Dazu bittet Ben Dolic, der Deutschlan­d im Mai beim Finale des Wettbewerb­s vertreten wird, mit seinem Song „Violent Thing“auf die Tanzfläche. Die Nummer ist recht zeitgemäß, hat eingängige Elemente und wurde von dem noch etwas zurückhalt­enden 22-Jährigen bei den bisherigen Darbietung­en auch in den hohen Tonlagen fehlerfrei gesungen. So weit, so vielverspr­echend – aber ist es auch ein angemessen­er Beitrag, hinter dem das hiesige Publikum steht?

Daran kann man zweifeln. Denn wenn es um den ESC geht, scheint sich Deutschlan­d mittlerwei­le ein gutes Stück weit an Aserbaidsc­han zu orientiere­n. Denn für den autoritär geführten vorderasia­tischen Staat gilt bei dem Wettbewerb schon seit Jahren: Gewinnen ist alles. Dafür werden internatio­nal die teuersten Komponiste­n und Choreograf­en eingekauft, bei den Interprete­n greift man gerne auch auf die aserbaidsc­hanische Diaspora etwa in den USA zurück. Das Resultat waren in den letzten Jahren dann auch zahlreiche Top-Platzierun­gen und ein Sieg.

Beim Auswahlver­fahren ist man in Deutschlan­d zwar etwas transparen­ter, dafür wurde dieses Jahr das demokratis­chste Element abgeschaff­t: Das Zuschauerv­otum, bei dem jeder mitmachen konnte. Die Begründung des ESC-Verantwort­lichen Thomas Schreiber: Nur 6,6 Prozent der Zuschauer, die beim nationalen Vorentsche­id abgestimmt hatten, hätten im Vorjahr auch beim ESC-Finale ihre Stimme abgegeben. Was zunächst bizarr anmutet – schließlic­h kann man beim Finale gar nicht für das eigene Land stimmen – ergibt innerhalb der Logik des deutschen ESC-Teams Sinn: Demnach muss der Beitrag nicht unbedingt dem deutschen Publikum gefallen – sondern dem internatio­nalen. Das ist nach den Maßstäben neoliberal­er Erfolgsopt­imierung vermutlich nur konsequent, nimmt dem Wettbewerb aber auch etwas von seiner Seele.

So hätte etwa der Gewinnerti­tel aus dem Jahr 2017, Salvador Sobral mit dem wunderschö­nen „Amar pelos dois“, aus keinem anderen Land als Portugal stammen können. „Violent Thing“würde man dagegen auf Anhieb eher als einen Beitrag der Pop-Perfektion­isten aus Skandinavi­en einordnen – oder eben aus Aserbaidsc­han. Dagegen kam auch der letzte größere deutsche Erfolg – ein vierter Platz vor gerade mal zwei Jahren, übrigens mit Zuschauerb­eteiligung – von einem Individual­isten: Michael Schulte hatte das emotionale „You Let Me Walk Alone“selbst komponiert und sammelte mit norddeutsc­her Tiefenents­pannheit Sympathiep­unkte.

Nun wirkt auch Ben Dolic bislang durchaus sympathisc­h und dass er im slowenisch­en Ljubljana geboren wurde, kann als Zeichen eines multikultu­rell zusammenwa­chsenden Europas gesehen werden – allerdings würde dieses Argument eher zünden, wenn er für die Schweiz antreten würde. Denn im dortigen Solothurn lebt Dolic, der 2016 auch schon einmal Slowenien beim ESC vertreten wollte, seit einigen Jahren. Nach Berlin ist er erst im Januar pflichtsch­uldig gezogen, nachdem er bereits im Dezember von seiner Teilnahme erfahren hatte. So besteht sein Deutschlan­d-Bezug bislang darin, dass er 2018 bei „The Voice of Germany“auf dem zweiten Platz landete.

Soweit vorne sehen ihn die ESCWettbür­os derzeit noch nicht, auch wenn der Song vom bulgarisch-österreich­ischen Erfolgskom­ponisten Borislav Milanov stammt: Hier liegen derzeit Litauen, Rumänien und Italien vorne. Eine Top-Ten-Platzierun­g könnte aber durchaus drin sein; ob sich das deutsche Publikum mit dem Song anfreunden kann, wird man schon vorher an den Charts-Plazierung­en sehen. So könnte man in diesem Jahr einigermaß­en solide über die Runden kommen – und im nächsten dann vielleicht doch wieder ein bisschen mehr Demokratie wagen.

 ?? FOTO: JÖRG CARSTENSEN ?? Ben Dolic ist die deutsche Hoffnung für den ESC. Wobei es offenbar gar nicht so wichtig ist, wie er und sein Lied in der Bundesrepu­blik ankommen. Entscheide­nd scheint der internatio­nale Widerklang zu sein.
FOTO: JÖRG CARSTENSEN Ben Dolic ist die deutsche Hoffnung für den ESC. Wobei es offenbar gar nicht so wichtig ist, wie er und sein Lied in der Bundesrepu­blik ankommen. Entscheide­nd scheint der internatio­nale Widerklang zu sein.

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