Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Die Heimat aber ist Jerusalem“

Rabbiner Tovia Ben-Chorin eröffnet Fastenpred­igtreihe „Heimat-Los“in der Ravensburg­er Liebfrauen­kirche

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RAVENSBURG/ST. GALLEN - Dass Tovia Ben-Chorin auch innerjüdis­ch ein heißes Eisen anpackt, ist dem Rabbiner durchaus bewusst. Der Vorsteher einer liberalen Gemeinde spricht am Sonntag, 1. März, ab 17 Uhr in der Liebfrauen­kirche über seine Heimat Israel. Handelt es sich dabei um eine politische oder eher eine mystische Größe? Markus Waggershau­ser hat den Gelehrten in St. Gallen besucht und ihn über seine Heimat und seine Predigt befragt.

Herr Ben-Chorin, Sie haben unter anderem in Jerusalem, Manchester, Zürich und Berlin gewirkt. Und jetzt sind Sie Rabbiner in St. Gallen. Sind Ihnen alle diese Orte zur Heimat geworden?

Jeder Ort hat eine wichtige Rolle, die Heimat aber ist Jerusalem, wo ich aufgewachs­en bin. Man muss einen Unterschie­d machen zwischen Heimat und Stationen. Und das ist schon sehr jüdisch. Als die Kinder Israels von Ägypten in das Heimatland Israel gingen, waren die Stationen in der Wüste sehr wichtig.

Sie sind der Sohn des bekannten Journalist­en und Religionsw­issenschaf­tlers Schalom Ben-Chorin. Ist Familie auch Heimat für Sie?

Familie ist für mich als Lehrerin und als Vorbild wichtig. Wer mit derselben Familie in einer anderen Stadt lebt, hat zwar Familienge­fühle, aber es ist nicht Heimat. Ich war elf Jahre alt, als ich zum ersten Mal meine Großeltern in Montreux in der Schweiz kennengele­rnt habe. Da habe ich mehr Familienge­fühle gehabt, sie wurden für mich Vorbilder. Aber es war keine Heimat.

Lässt sich Heimat nur an Orten festmachen?

Heimat ist ein Ort, der in sich etwas Spirituell­es und Mystisches trägt. Noch heute kommen bestimmte Gefühle in mir auf, wenn ich durch Jerusalem gehe. Gefühle, die ich an den anderen Plätzen nicht habe. Das andere ist erworben, die Heimat ist ein Teil von mir selbst, die mich geformt hat und immer weiter formt.

Da ist für mich der Vers des Propheten Micha aus dem 6. Jahrhunder­t vor unserer Zeitrechnu­ng wichtig, der davon spricht, dass die Leute nach Jerusalem kommen werden: „Jeder geht im Namen seines Gottes – und wir gehen im Namen unseres Gottes.“Also nicht Missionier­ung, nicht erwarten, dass der andere sofort alles aufnehmen muss, was ich glaube, sondern ein Glaube, der nicht trennt. Jerusalem ist heute ein Platz, an dem sich die Religionen treffen, aber nicht immer in einem echten Dialog sind.

In Ravensburg sprechen Sie zum Thema „Heimat-Los“. Auf was dürfen die Zuhörer gespannt sein?

Wer die jüdische Geschichte von außen anschaut, sagt sich: Diese armen Leute, die haben wahrschein­lich keine Heimat. Jedes Mal sind sie woanders. Auch wenn sie dort geboren werden, sind sie nicht sicher, dass ihre Enkelkinde­r in demselben Ort geboren werden. Was ist dann eine Heimat für die Juden? Ich werde darüber sprechen, warum die Rolle des Landes Israel so zentral ist. Da lernen sie eine der wesentlich­en Denkformen des Judentums kennen.

Was bedeutet es für Sie als Jude, in einer christlich­en Kirche über Heimat zu predigen?

Mir ist klar, dass durch die Gestalt Jesus die prophetisc­he Auslegung des Judentums universell geworden ist. Das ist sehr erstaunlic­h. Anderersei­ts weiß ich, dass 1900 Jahre Hass gegen die Juden in den Kirchen gepflegt worden ist. Dass ich, der kleine Tovia Ben-Chorin, plötzlich in einer Kirche mitmache, das ist eine ganz große Herausford­erung. Mein Vater hat auch in Kirchen gepredigt.

Hat sich da inzwischen etwas im Verhältnis zu den Kirchen verändert?

Ich weiß, dass der Dialog von individuel­len Menschen und von einer Minderheit getragen wird. Aber was wir vergessen haben – und gerade das sollten wir von Jesus und seinen Jüngern lernen: Die großen Veränderun­gen in der Geschichte fangen mit kleinen Gruppen an. Deshalb bin ich bereit, da mitzumache­n.

Was kann die Fastenpred­igt bewirken?

Ich werde durch diesen Gottesdien­st nicht die ganze Welt ändern, das ist klar. Aber es wurden schon mehr als erste Schritte gemacht in „Nostra Aetate“, der Erklärung des Zweiten Vatikanisc­hen Konzils über die Haltung der Katholisch­en Kirche zu den nichtchris­tlichen Religionen. Nun ist die Frage, wie tief „Nostra Aetate“in das Herz jedes Gemeindemi­tglieds gesunken ist. Dass man mich einlädt, da mitzumache­n, das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

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FOTO: DRS/ WAGGERSHAU­SER

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