Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Gestörte Würmer
Mikroplastik bringt den Untergrund von Gewässern durcheinander – Die Lebenskreisläufe werden behindert
Wie die winzigen Plastikteilchen den Würmern schaden, ist bisher kaum bekannt.
Martin Löder, Umweltforscher aus Bayreuth
Reichern sich winzige Kunststoffteilchen im Schlamm am Grund von Gewässern stark an, bringen sie das Leben dort mit der Zeit kräftig durcheinander: Nach 15 Monaten fressen sich dann von den nur wenige Zentimeter langen Ringelwürmern aus der Naididae-Familie viel weniger Tiere durch den Untergrund. Von ein paar anderen Arten finden Bart Koelmans und seine Kollegen von der Universität Wageningen in den Niederlanden dagegen ein paar mehr als sonst, berichten die Forscher in der Zeitschrift Science Advances. Da die Ringelwürmer in der Natur eine sehr wichtige Rolle spielen, können solche Änderungen eine enorme Bedeutung haben.
Bart Koelmans und seine Kollegen schließen mit ihrer Forschung eine wichtige Lücke: So zeigen inzwischen eine Reihe von Studien, wie stark sich Kunststoffe in der
Umwelt anreichern.
„Es fehlten aber Untersuchungen, wie diese oft winzig kleinen Plastikteilchen das Ökosystem langfristig beeinflussen“, erklärt Martin Löder, der an der Universität Bayreuth die „Plastic Group“am Lehrstuhl von Christian Laforsch leitet und dort auch das Verhalten von Kunststoffen in der Umwelt untersucht.
Genau diese Untersuchungen liefern jetzt die Forscher in den Niederlanden: Sie nahmen zunächst sauberes Sediment vom Grund eines Kanals, das sie bei minus zwanzig Grad einfroren, um darin lebende Organismen
abzutöten. Dazu mischten die Forscher in verschiedenen Konzentrationen entweder Nanoplastikteilchen, die im Durchschnitt einen Durchmesser von etwa einem Zehntausendstel Millimeter hatten, oder Mikroplastik mit einem Durchmesser zwischen einem Fünfzigstel und einem halben Millimeter. Insgesamt 80 solcher Mischungen wurden in Versuchsgefäße gefüllt, die im Juli 2016 in den Grund eines 50 Zentimeter tiefen Wasserkanals eingegraben wurden.
Als die Forscher diese Gefäße nach drei Monaten untersuchten, waren wie erwartet aus dem Kanal bereits etliche Organismen in das vorher leblose Material eingewandert. Nennenswerte Unterschiede gab es zwischen den Gefäßen mit verschiedenen Nano- und Mikroplastikanteilen jedoch kaum. Ganz anders aber sah die Situation ein Jahr später im September 2017 nach insgesamt 15 Monaten aus. In den Gefäßen ohne Plastikbeimischung und in den Behältern mit 0,005, 0,05 oder einem halben Prozent zugesetzten Plastikteilchen lebten jeweils sehr viel mehr Organismen
als in den Behältern, denen die Forscher mit fünf Prozent den höchsten Anteil von Nano- oder Mikroplastik mitgegeben hatten.
Dabei hatte der Kunststoff offensichtlich vor allem die Naididae-Ringelwürmer sehr stark in Mitleidenschaft gezogen, die für das Ökosystem eine entscheidende Rolle spielen: Diese Tiere fressen sich regelrecht durch das Sediment. Ähnlich wie Regenwürmer im Gartenboden
scheiden sie unverdaulichen Inhalt wie Sand und Schlick wieder aus, verdauen aber die im Boden steckenden Reste von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen und stellen die darin enthaltenen Nährstoffe später über ihren Kot wieder anderen Organismen zur Verfügung.
Bei ihrer Wühlarbeit mischen diese Ringelwürmer nicht nur den Boden gut durch, sondern lockern ihn auch. Dadurch können das lebensnotwendige Wasser und der für viele Organismen unverzichtbare Sauerstoff weiter in den Untergrund dringen und verbessern so die Bedingungen für andere Lebewesen. Wühlen sich also weniger Naididae-Ringelwürmer durch den Schlamm, dürften sich dort auch die Lebensbedingungen verschlechtern.
„Wie die winzigen Plastikteilchen den Würmern schaden, ist bisher kaum bekannt“, erklärt der Bayreuther Umweltforscher Martin Löder. Vielleicht verdünnen die reichlich vorhandenen Mikro- oder Nanoplastikteilchen das ohnehin karge Nahrungsangebot für die Tiere weiter. Dadurch könnten die Würmer langsamer wachsen und sich schlechter vermehren. Das würde auch erklären, weshalb nur die höchsten Plastikkonzentrationen die Zahl der Würmer erheblich dezimieren.
Allerdings wurden in der Umwelt zum Beispiel am Grund der Flüsse im Rhein-Main-Gebiet bisher nur erheblich niedrigere Mikroplastikkonzentrationen von rund 0,1 Prozent nachgewiesen. „Das liegt daran, dass sich kleines Mikroplastik in Umweltproben bisher nur sehr schwer nachweisen ließ und daher in Studien häufig nur die größeren Partikel mit mehr als einem halben Millimeter Durchmesser erfasst wurden“, erklärt Martin Löder. Er selbst arbeitet inzwischen mit erheblich feineren Filtern, die schon Mikroplastik mit einem Durchmesser von einem Hundertstel Millimeter zurückhalten. „Damit finden wir erheblich größere Mengen an Kunststoffteilchen“, nennt der Bayreuther Forscher ein noch vorläufiges Ergebnis seiner Untersuchungen.
Dieser Trend lässt sich mit der Entstehungsgeschichte von Mikroplastik erklären: „Am Anfang wird eine Bonbon- oder Pralinen-Verpackung, vielleicht auch eine Plastiktüte achtlos weggeworfen oder liegen gelassen“, beschreibt Martin Löder die erste Etappe auf dem Weg zum Mikroplastik. Sonnenlicht, Wind und Wellen lassen den Kunststoff mit der Zeit zu immer kleineren Teilchen zerbröseln, die sich so zunehmend in der Umwelt ansammeln.
„Auch wenn wir solche Werte bisher noch nicht gemessen haben, könnten fünf Prozent Mikro- oder auch Nanoplastikanteil im Sediment an hochbelasteten Stellen bereits heute in Reichweite sein“, vermutet Martin Löder. Die in den Experimenten an der Universität Wageningen gemessenen Veränderungen des Ökosystems am Grund von Kanälen, Gräben, Tümpeln und Seen könnten daher in Zukunft auch in Mitteleuropa die Umwelt umkrempeln.
Seine Messungen liefern Martin Löder aber auch einen Hinweis für Gegenmaßnahmen: „Wir finden in der Umwelt vor allem die meist in Verpackungsmaterialien verwendeten Kunststoffe.“Wer also meist Produkte mit wenig oder sogar ganz ohne Verpackung einkauft und kein Plastik in der Umwelt hinterlässt, könnte damit die Ringelwürmer am Grund unserer Gewässer und die gesamten Ökosysteme entlasten.