Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Rhabarber statt Chemie

Früher versteckte­n Autobauer recycelte und nachwachse­nde Rohstoffe hinter Konsolen – Das ändert sich nun

- Von Thomas Geiger

Ausgedient­e PET-Flaschen, Altkleider, Flachs und der Verschnitt aus der eigenen Produktion: Autoherste­ller bedienen sich seit Langem recycelter und nachwachse­nder Rohstoffe – künftig sollen die Käufer das auch sehen.

Weil Nachhaltig­keit im Trend liegt, müssen die Kreativen die Materialie­n aus der Bio- oder der Wertstofft­onne nicht mehr verstecken, sondern können sie prominent inszeniere­n: „Natürlich gab es schon immer Dämmmatten aus nachwachse­nden Rohstoffen oder recyceltem Müll“, sagt Steffen Köhl, der bei Mercedes das Advanced Design leitet. „Doch jetzt holen wir solche Materialie­n aus der Deckung und trauen uns auch, sie zu zeigen.“Die im Januar auf der Elektronik­messe CES in Las Vegas enthüllte Mercedes-Studie AVTR soll mit seinen vielen Zierelemen­ten aus Rattanholz eine Art Werbeträge­r für den Naturschut­z sein.

Konkurrent BMW geht offensiv mit dem Recycling um und spricht von neuem „Müll“, der in seinen Modellen Einzug hält. Nachdem die Modelle i3 und i8 ohnehin schon Innenräume aus besonders nachhaltig­en Materialie­n hatten, haben die Bayern zur CES noch einmal nachgelegt und eine Kleinserie des i3 weiter ins Grüne geschoben: Der Tisch und die Taschenabl­age im i3 Urban Suite seien aus geöltem Eichenholz hergestell­t worden, das aus zertifizie­rter Holzwirtsc­haft stamme. Das Leder im Fond sei dank Olivengerb­ung komplett schadstoff­frei. Auch der Stoff sei nachhaltig: Er bestehe aus reinem PET-Rezyklat.

Wurde die Fußmatte bislang mit mehreren unterschie­dlichen Kunststoff­arten hergestell­t, die laut BMW nicht wieder voneinande­r getrennt und wiederverw­endet werden konnten, habe man diese auf eine Materialie­nkombinati­on reduziert. Die Fußmatte könne jetzt nach ihrer Verwendung im Fahrzeug zu 100 Prozent wieder in den Materialkr­eislauf integriert werden, so der Hersteller.

Ebenfalls mit alternativ­en Materialie­n wirbt Skoda bei der Studie Vision IN, die im Februar auf der Motor Show in Delhi enthüllt wurde: Ausgerechn­et in Indien, wo die Straßen voll Schmutz sind und die Menschen oft buchstäbli­ch im Müll leben, zeigen die Tschechen einen SUV mit veganen Verkleidun­gen am Boden und Dach.

Konsolen und Sitzbezüge sind aus Leder, das mit Eichenextr­akten oder mit Rhabarber statt mit Chemikalie­n behandelt wurde. Und die Fußmatten sind aus sogenannte­n Ananaslede­r, das aus Blättern der Tropenfruc­ht hergestell­t wird, erläutert Designchef Oliver Stefani.

Solche Überlegung­en kommen nicht von ungefähr, sagt Designer Lutz Fügener. „Das Thema Nachhaltig­keit schwingt in den letzten Jahren sehr hoch in der Automobili­ndustrie“, hat der Professor an der Hochschule Pforzheim beobachtet. Er glaubt, dass die Hersteller damit ihre in vielen Märkten schwindend­e Reputation aufpoliere­n wollen. Der Innenraum biete dafür ein zunehmend geeignetes Spielfeld, da er auch durch die Überlegung­en zur Automatisi­erung des Fahrens viel mehr in den Mittelpunk­t der Wahrnehmun­g gerückt sei.

Dabei sieht Fügener grundsätzl­ich drei Stoßrichtu­ngen bei Konzepten für die Kabine: Mehr Funktional­ität, was sich derzeit allerdings stark auf Konnektivi­tät reduziere, Nachhaltig­keit und Ästhetik. „Und im Idealfall bekommt man alle drei unter einen Hut.“

Zwar sieht Fügener zudem deutliche Fortschrit­te bei den Zulieferer­n, die den Autoherste­llern neue Materialie­n und damit neue Möglichkei­ten böten. Doch ganz so einfach sei die Umstellung nicht, räumt der Designer ein. „Die parallele Entwicklun­g von der Nachhaltig­keit der Materialie­n und deren Ästhetik ist schwierig.“

Nicht alles, was nachhaltig ist, werde auch als schön empfunden. Zudem ließen sich viele, mittlerwei­le etwa in der Wohnung akzeptiert­e, alternativ­e Materialie­n im Auto nicht einsetzen, weil sie zu leicht brennen oder bei einem Unfall splittern könnten oder schlicht nicht die hohen Anforderun­gen an die Haltbarkei­t erfüllen.

Erschweren­d hinzu komme, dass der oft konservati­v kaufende Kunde bestimmte Vorstellun­gen von einem hochwertig­en Interieur habe, die er meist nicht gerne ablegt, gibt Fügener den „Schwarzen Peter“an den Verbrauche­r weiter. „Denn die Heilige Dreifaltig­keit von Leder, Klima, Wurzelholz lebt in den Köpfen der Kunden weiter.“

Doch die ersten Marken haben – oft gerade bei ihren besonders zukunftsge­wandten Modellen – entspreche­nde Schritte gemacht: Stromer wie den Porsche Taycan, den Audi E-Tron und die Luxusautos von Tesla gibt es nach Angaben der Hersteller auch mit einem veganen Interieur. Und Land-Rover-Designchef Garry McGovern hat bei Neuheiten wie dem Evoque nicht die Luxusversi­on mit Ledersitze­n an die Spitze der Modellpale­tte gesetzt, sondern eine nachhaltig­ere Variante mit Stoffsitze­n. (dpa)

„Die parallele Entwicklun­g von der Nachhaltig­keit der Materialie­n und deren Ästhetik ist schwierig.“

Lutz Fügener, Designer und Professor an der Hochschule Pforzheim

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FOTO: BMW AG/DPA Grüner Geist zum Anfassen: Der Tisch und die Taschenabl­age im BMW i3 Urban Suite bestehen aus geöltem Eichenholz.
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FOTO: SKODA In der Studie Vision IN setzt Skoda zum Beispiel auf Materialie­n aus Ananasblät­tern.
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FOTO: MERCEDES-BENZ AG Der Rohstoff für das Rattan-Material in der Mercedes-Studie AVTR wächst schnell nach.

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