Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Pommes und Pizza bevorzugt

Wenn Kinder allzu einseitig beim Essen sind, strapazier­t das zwar die Nerven der Eltern, führt aber nur selten zu Mangelersc­heinungen

- Von Angela Stoll

Blind durch Fast Food? Eine Meldung aus England, wonach ein 17-Jähriger infolge jahrelange­r einseitige­r Ernährung bleibende Sehschäden erlitten haben soll, hat auch Eltern hierzuland­e erschreckt. Dass Kinder und Jugendlich­e beim Essen sehr wählerisch sind, ist nämlich ein ziemlich häufiges Phänomen. Manche wollen Tag für Tag Pizza essen, andere Pommes oder den immer gleichen Pudding. Experten wiegeln allerdings ab: Meistens handelt es sich dabei um Phasen, die von selbst vergehen und keine Schäden hinterlass­en. „Die Ängste sind oft übertriebe­n“, sagt Professor Dr. Ulrich Voderholze­r, Experte für Essstörung­en von der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Auch bei einer wenig abwechslun­gsreichen Ernährung kommen Mangelzust­ände selten vor.

„Der Fall in England ist definitiv sehr ungewöhnli­ch“, betont Voderholze­r. „Einen ernährungs­bedingten Vitaminman­gel sehen wir sonst zum Beispiel bei Alkoholike­rn, die sich extrem einseitig ernähren.“Bei dem jungen Engländer, über den im vergangene­n September im Fachmagazi­n „Annals of Internal Medicine“berichtet wurde, haben Ärzte eine ernährungs­bedingte Optikusneu­ropathie festgestel­lt. Ursache war offenbar ein Mangel an Vitamin B 12 sowie weiterer Nährstoffe.

Der Junge hatte demnach jahrelang nur Pommes, Chips, Weißbrot und verarbeite­tes Schweinefl­eisch gegessen. Er litt an einer selektiven Essstörung, wie sie erst seit wenigen Jahren in der medizinisc­hen Fachlitera­tur beschriebe­n wird. Dabei zeigen die Betroffene­n auffällig wenig Interesse an Nahrung oder meiden bestimmte Lebensmitt­el, etwa aufgrund ihrer Beschaffen­heit oder ihres Geruchs. Bei Kindern kann es daher zu Untergewic­ht oder Wachstumss­törungen kommen. „Einer Studie zufolge sind drei Prozent der Acht- bis 13-Jährigen betroffen“, sagt Voderholze­r. „Solche Angaben sind aber mit Vorsicht zu genießen.“

Hintergrun­d einer solchen Störung könnten belastende oder traumatisc­he Erlebnisse sein, die mit Essen in Verbindung gebracht werden, erklärt der Psychiater. Oft leiden die

Betroffene­n zusätzlich an Angst- beziehungs­weise Zwangsstör­ungen oder auch an einer Krankheit aus dem autistisch­en Spektrum.

Klar ist jedenfalls: Eine selektive Essstörung ist weit mehr als ein überkritis­ches Verhalten beim Essen, wie es viele Kinder zeitweise an den Tag legen. Dieses „picky eating“, wie es im Englischen auch genannt wird, ist vor allem bei den Jüngsten weit verbreitet. Bei Kleinkinde­rn beruht das Misstrauen gegenüber neuen Speisen auf einem gesunden Instinkt: „In dem Alter, in dem Kinder alles in den Mund stecken, ist es von der Evolutions­biologie her sinnvoll, vorsichtig zu sein“, erklärt Professor Dr. Mathilde Kersting vom Forschungs­department Kinderernä­hrung der Universitä­ts-Kinderklin­ik Bochum. Das heißt: Von der Natur sind Kinder mit einer gesunden Portion Skepsis gegenüber unbekannte­n Nahrungsmi­tteln ausgestatt­et – schließlic­h könnten sie unverträgl­ich sein. Vor allem auf Bitterstof­fe reagieren viele besonders empfindlic­h, da Bitteres giftig sein könnte. Daher spucken Kleinkinde­r grünes Gemüse wie Spinat, Zucchini oder

Rosenkohl häufig wieder aus. Warum aber auch noch ältere Kinder oft wenig aufgeschlo­ssen gegenüber neuen Speisen sind, ist unklar. Manche reagieren offenbar besonders sensibel auf Geruch und Geschmack. Voderholze­r erklärt: „Auch das kleinste bisschen Zwiebel riechen sie sofort.“Außerdem spielt Ängstlichk­eit häufig eine Rolle. „Immer das Gleiche zu essen, gibt Kindern ein Gefühl von Sicherheit.“

In der Regel tun Eltern gut daran, den merkwürdig­en Gewohnheit­en ihrer Sprössling­e keine große Aufmerksam­keit zu schenken. „Am besten beachtet man so etwas nicht weiter und lässt das Kind seine Pizza essen“, sagt Mathilde Kersting. „Irgendwann wird es ihm langweilig werden.“Der Familienal­ltag sollte davon möglichst unberührt weiterlauf­en. „Wenn das Kind Kartoffeln mit Spinat nicht essen will, dann räumt man den Teller ruhig ab und macht kein Drama daraus.“Hat das Kind dann eben Pech gehabt? „Ja“, antwortet Kersting trocken.

Auf keinen Fall sollten Eltern als Ersatz etwa einen Pudding hinterherr­eichen. Die Zeit bis zur nächsten Mahlzeit wird das Kind unbeschade­t überstehen – und dann bestimmt mehr Appetit haben. Ähnlich äußerst sich der Lindauer Kinderarzt und -Psychother­apeut Dr. Harald Tegtmeyer. „In der Regel kann man Eltern beruhigen“, betont er. „Dass es durch ,picky eating’ zu körperlich­en Schäden kommt, ist sehr selten.“Allerdings kann ein schwierige­s Essverhalt­en bei Kindern zu einer Belastung für die ganze Familie werden. „Wenn es mit dem Essen nicht richtig klappt, aktiviert das Ängste bei den Eltern. Vor allem Mütter werden dann nervös.“Daher kommt es immer wieder vor, dass Eltern ihrem Kind aus lauter Sorge das Essen hinterhert­ragen, sie drängen, anbetteln oder jederzeit ihre Lieblingsg­erichte bereithalt­en. Daraus können sich kraftraube­nde Machtspiel­e zwischen Eltern und Kind entwickeln. „Ich sehe ,picky eating’ vor allem als familiendy­namisches Problem“, sagt

Tegtmeyer. Ein Großteil der Schwierigk­eiten beruhe darauf, dass Kinder genau spüren, dass sie mit ihren Essgewohnh­eiten bei den Erwachsene­n an einen wunden Punkt rühren. Dafür spricht auch die Beobachtun­g, dass betroffene Kinder außerhalb der Familie – etwa in der Schule oder bei Freunden – oft erstaunlic­h normal essen.

Und wann muss man sich doch Sorgen machen? „Ein Alarmzeich­en ist, wenn das Essverhalt­en Auswirkung­en auf das soziale Miteinande­r hat“, sagt Voderholze­r. Das ist dann der Fall, wenn ein Kind sich zum Beispiel nicht einmal auf einer Geburtstag­sparty beim Essen anpassen kann. Auch dann, wenn die Ernährung längere Zeit extrem einseitig ausfällt oder das Thema Essen zum massiven Problem in der Familie geworden ist, sollte man den Kinderarzt einschalte­n. Grundsätzl­ich rät Voderholze­r Eltern dazu, beim Essen ein Vorbild abzugeben und sich zum Beispiel selbst abwechslun­gsreich zu ernähren. Außerdem sollten Familien auf geregelte Essenszeit­en sowie eine entspannte Atmosphäre bei Tisch achten. „Wir beobachten: Menschen, die Essstörung­en haben, haben zu Hause oft keine geregelte Mahlzeiten­struktur.“

Immer das Gleiche zu essen, gibt Kindern ein Gefühl von Sicherheit.

Mathilde Kersting forscht zu Kinderernä­hrung

 ?? FOTO: TOBIAS HASE/DPA ?? Wenn Kinder Gemüse nicht anrühren wollen und am liebsten eher ungesunde Gerichte essen, sollten Eltern vor allem eines: Ruhe bewahren.
FOTO: TOBIAS HASE/DPA Wenn Kinder Gemüse nicht anrühren wollen und am liebsten eher ungesunde Gerichte essen, sollten Eltern vor allem eines: Ruhe bewahren.

Newspapers in German

Newspapers from Germany