Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein gutes Thema verspielt
Intendant Burkhard C. Kosminski inszeniert in Stuttgart die Uraufführung von Noah Haidles Stück „Weltwärts“über Sterbehilfe
STUTTGART - Kurz vor der Uraufführung gab es den spektakulären Urteilsspruch der Karlsruher Verfassungsrichter. Sie kippten das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe und stärkten das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Etwas mehr als achtzig Kilometer entfernt gab es auf der Stuttgarter Schauspielbühne dann die Uraufführung eines Stückes des US-Dramatikers Noah Haidle, in dem eine todkranke Frau genau dieses Recht in die eigene Hand nimmt. Inszeniert hat Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski. Ihm dürfte klar gewesen sein, auf welch dünnem Eis er sich bewegt.
Sie will es im Kreise ihrer nächsten Angehörigen tun. Anne ist 36, hat eine unheilbare Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium, bei der es in Folge eines Muskelabbaus zu Lähmungen und zunehmenden Schwierigkeiten beim Sprechen, Schlucken und Atmen kommt. Im Moment geht es ihr noch einigermaßen gut, genau deshalb will sie jetzt selbstbestimmt aus dem Leben scheiden. In „knapp zwei Stunden“ist es soweit, alles ist minutiös geplant. Wer nicht weiß, um was es geht, könnte meinen, hier würde eine Party oder eine Hochzeit vorbereitet. Der Grund für die Entscheidung ist nachvollziehbar. Die Todkranke möchte nicht anonym in der Intensivstation eines Krankenhauses
sterben, also sind alle dabei, die Anne nahestehen.
Die schlagfertige Tochter zum Beispiel, die, gerade mal sieben Jahre alt, klüger zu sein scheint als manch Siebzigjährige. Oder die Mutter der Sterbewilligen, eine Hebamme, die so gut wie jedem Kind der Region beim Schritt ins Leben behilflich war, inzwischen aber auch, welch ein Zufall, Sterbewilligen am anderen Ende des Lebensweges durch die Tür hilft. Auch jetzt, da die eigene Tochter an der Reihe ist, hat sie alles vorbereitet, inklusive der todbringenden Medikamente. Zuerst gibt sie sich cool, muss dann aber einsehen, dass sie das doch mehr mitnimmt als all die anderen Fälle, in denen sie den Tod „choreografierte“.
Um die Partygesellschaft komplett zu machen, sind da auch noch Annas Zwillingsschwester, ein Geigenlehrer und der Zahnarzt der Familie. Die Schwester ist empört, dass ihre bessere Hälfte sie so plötzlich allein im Leben zurücklassen will, der Lehrer tritt zur letzten Unterrichtsstunde an und offenbart, dass er die Schülerin schon immer geliebt hat. Der Dentalarzt sorgt für die notwendigen Barbiturate und stellt den Sterbeschein aus, ist ganz nebenbei aber auch, oh welch ein Zufall, ein verkrachter Laienschauspieler!
Nicht zuletzt wegen all dieser konstruierten Zusammenhänge hat man schon beim Lesen das Gefühl,
Noah Haidle sei schlecht beraten gewesen, eines der sensibelsten Themen der Gegenwart wie in einer Slapstickkomödie zu verhandeln. Anders als vor drei Jahren, als der amerikanische Theater- und Filmautor uns in „Für immer schön“eine Handlungsreisende vorstellte, die Kosmetikprodukte verkauft (Burkhard C. Kosminski inszenierte das am Mannheimer Nationaltheater, es wurde häufig nachgespielt), passt in „Weltwärts“so gut wie nichts zusammen. Dass Haidle keine Tragödie schreiben wollte, sondern eine Komödie mit tragischen Einschlägen, ist verständlich. Völlig unverständlich sind die vielen Brüche und falschen Anschlüsse.
Die freudige Erregung zum Beispiel, die Haidle fast allen Figuren verordnet, passt genau so wenig zum Thema des selbstbestimmten Todes wie das emotionslose Philosophieren, mit dem Haidle aus der siebenjährigen Tochter der Sterbewilligen eine interessante Figur machen will. Immerhin geht es um den bevorstehenden Tod der Mutter. Man fragt sich, trumpft ein Kind da tatsächlich wie eine Mischung aus Philosophieprofessorin, Unternehmensberaterin und beste Freundin auf?
Und ganz am Ende sind da auch noch Slapstickszenen wie die, in der ein Polizist (Peer Oscar Musinowski) die Sterbeparty aufmischt. Zuerst will er sie verbieten, dann outet er sich aber doch als Sterbehelfer und führt den ungebetenen Nachbarn Kevin (Klaus Rodewald) ab, auf dass es sich reibungsloser sterben lasse.
Man hat den Eindruck, Burkhard C. Kosminksi habe auf all die Sollbruchstellen im Stück eher überfordert reagiert. Das mit dem good old American Cop zum Beispiel funktioniert in der Uraufführung ungefähr so wie die wirklich komischen Szenen, in denen Charlie Chaplin sich dereinst mit Polizisten balgte. Elmar Roloff geht als Hare Krishna-Zahnarzt und Möchtegern-Hamlet gerade noch als illustrer Farbtupfer durch, während Josephine Köhler als Postpunkerin immerhin den Eindruck erweckt, der bevorstehende Tod der Zwillingsschwester gehe ihr nahe. Anke Schubert ist als Hebamme des Sterbens und Mutter genau so wie Therese Dörr als sterbewillige Anna schon deshalb überfordert, weil der Autor den Figuren keinerlei emotionale Entwicklung und Tiefgang gönnt. Um eine Erkenntnis ist man am Ende aber doch reicher. Es sieht so aus, als sei das Thema zu groß gewesen für den Autor und die Inszenierung.