Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Zivilisationsgeschichte versinkt im Stausee
Mit Hasankeyf werden Hunderte historische Stätten am Tigris geflutet
HASANKEYF
- Das Wasser steigt in Hasankeyf: Die historische Stadt am Tigris versinkt im Stausee. Jahrzehntelang wurde über den Ilisu-Damm gestritten, nun ist er fertig und staut seit dem vergangenen Sommer den Tigris in Südostanatolien auf. Die Fluten haben inzwischen Hasankeyf erreicht, das rund einhundert Kilometer oberhalb der Staustufe liegt, und steigen täglich weiter – schon wird die jahrtausendealte Unterstadt geflutet.
Eine Anwohnerin sprach ein Gebet, als die 600-jährige Er-Rizk-Moschee im Dezember als letztes von sieben Kulturdenkmälern auf eine rollende Plattform gehievt wurde, um sie in einen sogenannten Arkeopark auf einer Anhöhe über dem Stausee zu versetzen. Als der Transport anrollte, kamen der alten Frau die Tränen. Wie die Moschee, so haben auch die Menschen von Hasankeyf ihre Heimat verlassen müssen und sind umgesiedelt worden, und nicht nur sie: Außer der Kleinstadt gehen nahezu 200 Dörfer und Weiler im Stausee unter.
Bedenken gegen die türkischen Methoden bei der Umsiedlung waren einer von drei Gründen, die europäische Geldgeber vor zehn Jahren zum Ausstieg aus dem Projekt bewogen. Kritik an der Umweltzerstörung im Tigris-Tal war ein zweiter Grund dafür, dass Deutschland, Österreich und die Schweiz ihre Kreditgarantien für den Damm zurückzogen – ein massiver Rückschlag damals für das Projekt, aus dem sich ein Jahrzehnt zuvor schon ein britisches Konsortium verabschiedet hatte. Am schwersten wog aber der dritte Beweggrund, der bis heute im Fokus von internationalen Protesten gegen den Ilisu-Staudamm steht: die Zerstörung von unschätzbaren Zeugnissen der Menschheitsgeschichte.
Die Kalksteinklippen über dem Tigris, die den Palasthügel von Hasankeyf tragen, wurden vor der Flutung mit Beton eingedeckt, um sie zu stabilisieren. Von diesen Klippen aus bot sich früher eine atemberaubende Aussicht auf die Kulturschätze aus der mehr als zehntausendjährigen Geschichte von Hasankeyf. Die Assyrer, die Meder und die Perser siedelten hier einst, in den Jahrhunderten nach Christus wurde die Stadt von den Byzantinern beherrscht, danach von den Artukiden, den Akkoyunlu, den Seldschuken und den Osmanen. Ein frühchristlicher Kirchenbau krönt den Palasthügel. Von hier aus waren einst die Bauten in der Unterstadt von Hasankeyf gut zu sehen: die El-Rizk-Moschee, die ayyubidische Koc-Moschee, die mittelalterliche Steinbrücke und die Fürstengräber.
Das ist nun alles Geschichte: Diese Aussicht wird nie wieder jemand zu sehen bekommen. Mit Ausflugsbooten
sollen Touristen künftig zum Palasthügel gebracht werden, um auf der Anhöhe die verbliebenen Kulturgüter zu besichtigen – so haben es die Behörden geplant. Die Er-Rizk-Moschee und ein halbes Dutzend weitere Bauten aus der Unterstadt werden im Arkeopark zu sehen sein, in den sie umgesiedelt wurden. Die übrige Unterstadt versinkt im Wasser – komplett mit allen Spuren ihrer zehntausendjährigen Geschichte.
Ein unwiederbringlicher Verlust für die Menschheit, sagt der Istanbuler Rechtsanwalt Murat Cano, der zwei Jahrzehnte lang gegen den Damm gekämpft hat. „In Hasankeyf gibt es Relikte aller Zivilisationen, die im oberen Mesopotamien existierten“, sagt er. „An solchen Stätten gehen die Schichten der verschiedenen Zivilisationen häufig ineinander über, bis sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind, aber hier ist es anders: Hier sind die Überreste jeder Zivilisation einzeln zu sehen, sie haben ihre besonderen Merkmale bewahrt und bilden zusammen ein Ensemble.“
Durch alle Instanzen hat Cano gegen den Damm prozessiert – von einem örtlichen Verwaltungsgericht in Diyarbakir, wo er am 12. Januar 2000 die erste Klage einreichte, bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Zusammen mit Archäologen und Kunsthistorikern klagte der Anwalt gegen die Zerstörung des kulturellen Menschheitserbes – als Privatmann und betroffener Bürger. „Dieses kulturelle Erbe gehört nicht mir oder dir, es gehört uns allen“, begründet er die Klage.
Das sahen die Gerichte anders, und zwar bis hinauf zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, der die Klage im vergangenen Jahr abwies. Der Gerichtshof sehe zwar einen europäischen Trend, das Recht von Minderheiten auf ihr kulturelles Erbe zu schützen, erklärten die Richter in Straßburg. „Dagegen hat das Gericht bisher keinen europäischen Konsens wahrgenommen, aus der Menschenrechtskonvention ein universelles Individualrecht auf den Schutz des kulturellen Erbes abzuleiten, wie in der vorliegenden Klageschrift gefordert“, erklärten die Richter.
Mit anderen Worten: Hätte Cano als Angehöriger einer Minderheit geklagt, die ihre Grabstätten oder Volkstänze durch den Damm gefährdet sieht, hätte er vielleicht eine Chance gehabt. Aber ein Recht auf Erhaltung des kulturellen Menschheitserbes, so stellt sich heraus, gibt es in Europa nicht – selbst dann nicht, wenn es hier um das Erbe wirklich aller Menschen in Europa geht. Denn Hasankeyf ist nur die sichtbarste Spitze des Kulturerbes, das im Stausee untergeht.
Etwa in Körtik Tepe, einer von Dutzenden archäologischen Stätten im Tigris-Tal. Bis zuletzt arbeitete ein internationales Team von Wissenschaftlern in dieser prähistorischen Siedlung, die etwa 50 Kilometer flussaufwärts von Hasankeyf liegt. Etwa 10 000 Jahre vor Christus ließen sich Menschen in Körtik Tepe nieder, also vor rund 12 000 Jahren. Was die Archäologen bei der Rettungsgrabung entdeckt haben, ist bahnbrechend. Bei den ersten Bewohnern der Siedlung handelte es sich demnach um Menschen, die sesshaft waren, aber noch keine Landwirtschaft betrieben, weil sie sich von ihrer Umwelt ernähren konnten, wie Grabungsleiter Vecihi Özkaya türkischen Medien berichtete: „Das beobachten wir hier erstmals in der Menschheitsgeschichte.“
Bisher ging die Wissenschaft davon aus, dass Menschen sesshaft wurden, weil sie von den Umständen dazu gezwungen wurden – dass Jäger und Sammler wegen knapper Umwelt-Ressourcen zu Ackerbau und Viehzucht übergehen und dafür an einem Ort bleiben mussten, statt umherzuziehen. Die Menschen von Körtik Tepe aber waren offenbar Jäger und Sammler, die rund ums Jahr an einem Ort lebten und feste Häuser bauten. „Diese Entdeckung zwingt uns, alles bisherige Wissen infrage zu stellen“, sagt Özkaya. „So einen Durchbruch gibt es in der Archäologie nur einmal in tausend Jahren.“
Körtik Tepe ist nur eine von vielen Siedlungen aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte, die nun geflutet werden – und in denen Rettungsgrabungen teils ähnlich spektakuläre Erkenntnisse zutage förderten. Diese Entdeckungen seien dem Staudamm zu verdanken, argumentiert die türkische Regierung, die im Rahmen des Ilisu-Projekts fast 300 archäologische Grabungen am Tigris förderte.
Die meisten Fürsprecher des Kulturerbes im Tigris-Tal widersprechen dieser Ansicht vehement – so wie Zeynep Ahunbay, eine Professorin für Architekturgeschichte, die mit dem Anwalt Cano geklagt hatte. „Archäologie muss langsam und geduldig betrieben werden, doch wenn ein Damm gebaut wird, muss alles ganz schnell gehen – das schränkt die Wissenschaft ein“, sagte Ahunbay der „Schwäbischen Zeitung“. „Eine Rettungsgrabung ist etwas anderes als eine wirklich wissenschaftliche Ausgrabung.“
Diese Erfahrung machten die Archäologen am Tigris auch. „Eines der größten Probleme war der Zeitdruck“, berichtete ein internationales Grabungsteam, das am Tigris die Überreste der assyrischen Stadt Tushhan barg, einer archäologischen Fachzeitschrift. „Jedes Jahr mussten wir davon ausgehen, dass dies vielleicht unser letztes sein könnte.“Nicht einmal in Hasankeyf sei auch nur annähernd genug gearbeitet worden, sagt Zeynep Ahunbay. „Die Stätte wurde gerade einmal abgestaubt, sozusagen, bevor sie nun geflutet wird.“
Besser als nichts, entgegnet die türkische Regierung auf solche Vorwürfe. Ohne den Staudamm wäre Hasankeyf völlig verfallen und vergessen worden, argumentiert Ankara: Wenn der türkische Staat sie nicht gerettet hätte, wäre die ganze Stadt über kurz oder lang vom Hang gerutscht.
Zeynep Ahunbay macht das wütend. „Es ist doch die Pflicht des Staates, Kulturgüter zu schützen“, sagt sie. „Und indem man einige historische Artefakte an einen anderen Ort versetzt, hat man Hasankeyf nicht konserviert. Der Großteil der Stätte wird überflutet und vom Wasser zerstört.“
Jahrzehntelang hat die heute 73jährige Professorin gekämpft, um das zu verhindern. „Es ist einfach niederschmetternd, dass die Richter den Menschenrechtsbegriff immer noch so eng definieren“, sagt sie über das Urteil des Europäischen Menschrechtsgerichtshofs. „Sie hätten diese Gelegenheit ergreifen können, um eine breitere Perspektive zu eröffnen, aber leider haben sie die Chance nicht genutzt.“
Und so versinken Hasankeyf und das Tigris-Tal in diesen Tagen im Wasser. Zeynep Ahunbay ist nicht mehr dort gewesen, seit der Damm fertig ist: Den Anblick könne sie nicht ertragen.