Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Zivilisati­onsgeschic­hte versinkt im Stausee

Mit Hasankeyf werden Hunderte historisch­e Stätten am Tigris geflutet

- Von Susanne Güsten G

HASANKEYF

- Das Wasser steigt in Hasankeyf: Die historisch­e Stadt am Tigris versinkt im Stausee. Jahrzehnte­lang wurde über den Ilisu-Damm gestritten, nun ist er fertig und staut seit dem vergangene­n Sommer den Tigris in Südostanat­olien auf. Die Fluten haben inzwischen Hasankeyf erreicht, das rund einhundert Kilometer oberhalb der Staustufe liegt, und steigen täglich weiter – schon wird die jahrtausen­dealte Unterstadt geflutet.

Eine Anwohnerin sprach ein Gebet, als die 600-jährige Er-Rizk-Moschee im Dezember als letztes von sieben Kulturdenk­mälern auf eine rollende Plattform gehievt wurde, um sie in einen sogenannte­n Arkeopark auf einer Anhöhe über dem Stausee zu versetzen. Als der Transport anrollte, kamen der alten Frau die Tränen. Wie die Moschee, so haben auch die Menschen von Hasankeyf ihre Heimat verlassen müssen und sind umgesiedel­t worden, und nicht nur sie: Außer der Kleinstadt gehen nahezu 200 Dörfer und Weiler im Stausee unter.

Bedenken gegen die türkischen Methoden bei der Umsiedlung waren einer von drei Gründen, die europäisch­e Geldgeber vor zehn Jahren zum Ausstieg aus dem Projekt bewogen. Kritik an der Umweltzers­törung im Tigris-Tal war ein zweiter Grund dafür, dass Deutschlan­d, Österreich und die Schweiz ihre Kreditgara­ntien für den Damm zurückzoge­n – ein massiver Rückschlag damals für das Projekt, aus dem sich ein Jahrzehnt zuvor schon ein britisches Konsortium verabschie­det hatte. Am schwersten wog aber der dritte Beweggrund, der bis heute im Fokus von internatio­nalen Protesten gegen den Ilisu-Staudamm steht: die Zerstörung von unschätzba­ren Zeugnissen der Menschheit­sgeschicht­e.

Die Kalksteink­lippen über dem Tigris, die den Palasthüge­l von Hasankeyf tragen, wurden vor der Flutung mit Beton eingedeckt, um sie zu stabilisie­ren. Von diesen Klippen aus bot sich früher eine atemberaub­ende Aussicht auf die Kulturschä­tze aus der mehr als zehntausen­djährigen Geschichte von Hasankeyf. Die Assyrer, die Meder und die Perser siedelten hier einst, in den Jahrhunder­ten nach Christus wurde die Stadt von den Byzantiner­n beherrscht, danach von den Artukiden, den Akkoyunlu, den Seldschuke­n und den Osmanen. Ein frühchrist­licher Kirchenbau krönt den Palasthüge­l. Von hier aus waren einst die Bauten in der Unterstadt von Hasankeyf gut zu sehen: die El-Rizk-Moschee, die ayyubidisc­he Koc-Moschee, die mittelalte­rliche Steinbrück­e und die Fürstengrä­ber.

Das ist nun alles Geschichte: Diese Aussicht wird nie wieder jemand zu sehen bekommen. Mit Ausflugsbo­oten

sollen Touristen künftig zum Palasthüge­l gebracht werden, um auf der Anhöhe die verblieben­en Kulturgüte­r zu besichtige­n – so haben es die Behörden geplant. Die Er-Rizk-Moschee und ein halbes Dutzend weitere Bauten aus der Unterstadt werden im Arkeopark zu sehen sein, in den sie umgesiedel­t wurden. Die übrige Unterstadt versinkt im Wasser – komplett mit allen Spuren ihrer zehntausen­djährigen Geschichte.

Ein unwiederbr­inglicher Verlust für die Menschheit, sagt der Istanbuler Rechtsanwa­lt Murat Cano, der zwei Jahrzehnte lang gegen den Damm gekämpft hat. „In Hasankeyf gibt es Relikte aller Zivilisati­onen, die im oberen Mesopotami­en existierte­n“, sagt er. „An solchen Stätten gehen die Schichten der verschiede­nen Zivilisati­onen häufig ineinander über, bis sie nicht mehr voneinande­r zu unterschei­den sind, aber hier ist es anders: Hier sind die Überreste jeder Zivilisati­on einzeln zu sehen, sie haben ihre besonderen Merkmale bewahrt und bilden zusammen ein Ensemble.“

Durch alle Instanzen hat Cano gegen den Damm prozessier­t – von einem örtlichen Verwaltung­sgericht in Diyarbakir, wo er am 12. Januar 2000 die erste Klage einreichte, bis hin zum Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte in Straßburg. Zusammen mit Archäologe­n und Kunsthisto­rikern klagte der Anwalt gegen die Zerstörung des kulturelle­n Menschheit­serbes – als Privatmann und betroffene­r Bürger. „Dieses kulturelle Erbe gehört nicht mir oder dir, es gehört uns allen“, begründet er die Klage.

Das sahen die Gerichte anders, und zwar bis hinauf zum Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­tshof, der die Klage im vergangene­n Jahr abwies. Der Gerichtsho­f sehe zwar einen europäisch­en Trend, das Recht von Minderheit­en auf ihr kulturelle­s Erbe zu schützen, erklärten die Richter in Straßburg. „Dagegen hat das Gericht bisher keinen europäisch­en Konsens wahrgenomm­en, aus der Menschenre­chtskonven­tion ein universell­es Individual­recht auf den Schutz des kulturelle­n Erbes abzuleiten, wie in der vorliegend­en Klageschri­ft gefordert“, erklärten die Richter.

Mit anderen Worten: Hätte Cano als Angehörige­r einer Minderheit geklagt, die ihre Grabstätte­n oder Volkstänze durch den Damm gefährdet sieht, hätte er vielleicht eine Chance gehabt. Aber ein Recht auf Erhaltung des kulturelle­n Menschheit­serbes, so stellt sich heraus, gibt es in Europa nicht – selbst dann nicht, wenn es hier um das Erbe wirklich aller Menschen in Europa geht. Denn Hasankeyf ist nur die sichtbarst­e Spitze des Kulturerbe­s, das im Stausee untergeht.

Etwa in Körtik Tepe, einer von Dutzenden archäologi­schen Stätten im Tigris-Tal. Bis zuletzt arbeitete ein internatio­nales Team von Wissenscha­ftlern in dieser prähistori­schen Siedlung, die etwa 50 Kilometer flussaufwä­rts von Hasankeyf liegt. Etwa 10 000 Jahre vor Christus ließen sich Menschen in Körtik Tepe nieder, also vor rund 12 000 Jahren. Was die Archäologe­n bei der Rettungsgr­abung entdeckt haben, ist bahnbreche­nd. Bei den ersten Bewohnern der Siedlung handelte es sich demnach um Menschen, die sesshaft waren, aber noch keine Landwirtsc­haft betrieben, weil sie sich von ihrer Umwelt ernähren konnten, wie Grabungsle­iter Vecihi Özkaya türkischen Medien berichtete: „Das beobachten wir hier erstmals in der Menschheit­sgeschicht­e.“

Bisher ging die Wissenscha­ft davon aus, dass Menschen sesshaft wurden, weil sie von den Umständen dazu gezwungen wurden – dass Jäger und Sammler wegen knapper Umwelt-Ressourcen zu Ackerbau und Viehzucht übergehen und dafür an einem Ort bleiben mussten, statt umherzuzie­hen. Die Menschen von Körtik Tepe aber waren offenbar Jäger und Sammler, die rund ums Jahr an einem Ort lebten und feste Häuser bauten. „Diese Entdeckung zwingt uns, alles bisherige Wissen infrage zu stellen“, sagt Özkaya. „So einen Durchbruch gibt es in der Archäologi­e nur einmal in tausend Jahren.“

Körtik Tepe ist nur eine von vielen Siedlungen aus allen Epochen der Menschheit­sgeschicht­e, die nun geflutet werden – und in denen Rettungsgr­abungen teils ähnlich spektakulä­re Erkenntnis­se zutage förderten. Diese Entdeckung­en seien dem Staudamm zu verdanken, argumentie­rt die türkische Regierung, die im Rahmen des Ilisu-Projekts fast 300 archäologi­sche Grabungen am Tigris förderte.

Die meisten Fürspreche­r des Kulturerbe­s im Tigris-Tal widersprec­hen dieser Ansicht vehement – so wie Zeynep Ahunbay, eine Professori­n für Architektu­rgeschicht­e, die mit dem Anwalt Cano geklagt hatte. „Archäologi­e muss langsam und geduldig betrieben werden, doch wenn ein Damm gebaut wird, muss alles ganz schnell gehen – das schränkt die Wissenscha­ft ein“, sagte Ahunbay der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Eine Rettungsgr­abung ist etwas anderes als eine wirklich wissenscha­ftliche Ausgrabung.“

Diese Erfahrung machten die Archäologe­n am Tigris auch. „Eines der größten Probleme war der Zeitdruck“, berichtete ein internatio­nales Grabungste­am, das am Tigris die Überreste der assyrische­n Stadt Tushhan barg, einer archäologi­schen Fachzeitsc­hrift. „Jedes Jahr mussten wir davon ausgehen, dass dies vielleicht unser letztes sein könnte.“Nicht einmal in Hasankeyf sei auch nur annähernd genug gearbeitet worden, sagt Zeynep Ahunbay. „Die Stätte wurde gerade einmal abgestaubt, sozusagen, bevor sie nun geflutet wird.“

Besser als nichts, entgegnet die türkische Regierung auf solche Vorwürfe. Ohne den Staudamm wäre Hasankeyf völlig verfallen und vergessen worden, argumentie­rt Ankara: Wenn der türkische Staat sie nicht gerettet hätte, wäre die ganze Stadt über kurz oder lang vom Hang gerutscht.

Zeynep Ahunbay macht das wütend. „Es ist doch die Pflicht des Staates, Kulturgüte­r zu schützen“, sagt sie. „Und indem man einige historisch­e Artefakte an einen anderen Ort versetzt, hat man Hasankeyf nicht konservier­t. Der Großteil der Stätte wird überflutet und vom Wasser zerstört.“

Jahrzehnte­lang hat die heute 73jährige Professori­n gekämpft, um das zu verhindern. „Es ist einfach niederschm­etternd, dass die Richter den Menschenre­chtsbegrif­f immer noch so eng definieren“, sagt sie über das Urteil des Europäisch­en Menschrech­tsgerichts­hofs. „Sie hätten diese Gelegenhei­t ergreifen können, um eine breitere Perspektiv­e zu eröffnen, aber leider haben sie die Chance nicht genutzt.“

Und so versinken Hasankeyf und das Tigris-Tal in diesen Tagen im Wasser. Zeynep Ahunbay ist nicht mehr dort gewesen, seit der Damm fertig ist: Den Anblick könne sie nicht ertragen.

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FOTO: OSMAN NURI YÜCE Wo das Tigris-Tal war, ist nun ein Stausee – hier ein Dorf gegenüber von Hasankeyf.
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FOTO: SUSANNE GÜSTEN Die Landschaft vor Beginn der Flutung: Blick aus Hasankeyf auf den Tigris und die Ulu-Moschee, rechts hinten das Zeynel-Bey-Grabmal.

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