Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Bis das Ruthle nicht mehr kam“

Wie sich die Wangenerin Edith Wagner an ihre jüdische Freundin Ruth Lindauer erinnert

- Von Susi Weber

WANGEN/OBERSTAUFE­N – „Das ist sie, mein Ruthle“, sagt Edith Wagner. Auf ihrem Schoß liegt das Buch „Verdrängte Jahre? – Wangen im Allgäu 1933 bis 1945“. Auf Seite 227 ist Ruth Lindauer auf einem Foto aus dem Jahr 1935 abgebildet. Für Edith Wagner war sie damals Freundin, Schulkamer­adin, Nachbarin. Die Tochter des angesehene­n Viehhändle­rs Martin Lindauer und dessen Frau Rosa verschwand am 12. Mai 1938 von Wangen aus nach Luxemburg, ihre Eltern folgten ein halbes Jahr später. Edith Wagner erinnert sich an den „hundsgemei­nen Möbelrausw­urf“– und das Wiedersehe­n nach dem Krieg.

Im Juni 1928 kam Edith Wagner als Edith Walser zur Welt. „Mein Vater hat einen großen Friseursal­on an der Schmiedstr­aße 15 gehabt“, erzählt die betagte Dame, die heute in einem Altenheim in Oberstaufe­n lebt. Nein, einfach waren die Zeiten für die Familie, zu der neben den Eltern noch ein älterer Bruder gehörte, nicht: „Wir hatten nichts zu essen, und ich habe später keine Jugend gehabt“, sagt Wagner.

Drei Monate nach Edith Wagner, am 21. September 1928, wurde ein weiteres Wangener Mädchen geboren: Ruth Lindauer. Ihr Vater Martin war drei Jahre zuvor nach Wangen gekommen.

Ursprüngli­ch kam die Familie, so Stadtarchi­var Rainer Jensch, aus Esslingen. Schon 1911 gab es in Wangen eine Filiale der „Viehhandlu­ng Lindauer und Söhne“. Die Stallung befand sich in der Nähe des Festplatze­s. Dort hatte auch der langjährig­e Viehwärter der Lindauers seine Wohnung, weshalb sich Martin Lindauer zunächst als Mieter in einer Wohnung am Scherrichm­ühlweg einmieten musste. Später konnte er dann ein Hofgebäude mit Stallung am Engelberg pachten und beziehen – in unmittelba­rer Nachbarsch­aft zur Familie Walser.

Ruth und Edith gingen in dieselbe Klasse in der damaligen „Volksschul­e“, der heutigen Martinstor­schule. „Sie war in der Bank hinter mir“, sagt Edith Wagner. Zudem war sie öfters bei den Lindauers zu Hause: „Es war immer schön.“Auch die Eltern waren befreundet. Der Vater schnitt den Lindauers die Haare. Zu seinem Kundenkrei­s gehörte auch Kreisleite­r Gottlob Pfeiffer. Er prangerte Vater Walser laut Edith Wagner eines Tages an: „Sie schneiden Juden die Haare?“Der habe daraufhin geantworte­t: „Sie verkaufen auch Strom an die Lindauers.“

Das, sagt Wagner, waren wohl die Vorzeichen – oder anders gesagt: „Da ging es los mit dem Zirkus.“Sie werde nicht vergessen, wie den Lindauers schließlic­h das Haus ausgeräumt und die Möbel auf die Straße geworfen wurden. Wer genau das tat, kann sie nicht mehr sagen: „Ich weiß aber noch, dass Maria Allmending­er, die gemeinsame Haushaltsh­ilfe von uns und den Lindauers, versuchte, Hilfe zu holen – und wir auf der Straße standen und schauten, wie alles auf einen Lastwagen geladen wurde. Das war hundsgemei­n.“An Denunziant­entum in der Schule kann sich Edith Wagner nicht erinnern: „Bis auf einmal das Ruthle nicht mehr kam.“

Praktisch über Nacht sei sie verschwund­en. Laut den städtische­n Büchern geschah dies am 12. Mai 1938. Die Eltern folgten ihr Mitte Oktober nach Luxemburg. Im Mai 1939 wanderte die Familie nach Amerika aus. Der Kontakt zwischen Edith Wagner und Ruth Lindauer hielt schriftlic­h und telefonisc­h auch über den großen Teich. In den 80er- und Anfang der 90er-Jahre kehrte Ruth Lindauer, die in den Staaten geheiratet und zwei Kinder bekommen hatte, auch wieder zu Besuch nach Wangen zurück: „Sie hat mich auch in die USA eingeladen, aber ich bin leider nie rübergegan­gen“, bedauert Wagner.

Vor ein paar Jahren ist Ruth Lindauer verstorben. Vergessen wird Edith Wagner ihr Ruthle nie.

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FOTO: SUSI WEBER Denkt mit Wehmut an „ihr Ruthle“: Die Wangenerin Edith Wagner, die einige Ereignisse rund um ihre jüdische Freundin miterlebte.
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FOTO: STADTARCHI­V Ruth Lindauer (Mitte) um das Jahr 1935 mit ihren Freunden Hans und Heidi Lehmann.

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