Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Tütenschleppen für andere
Gelebte Solidarität in der Corona-Krise: mit einem Einkaufshelfer auf Tour
RAVENSBURG - Mit vier Einkaufszetteln, einem Stapel Papiertüten und einigen Stunden freigeschaufelter Zeit ist Jürgen Schmid Anfang der Woche in seinen ersten Dienst als ehrenamtlicher Einkaufshelfer gestartet. Für die Diakonie in Ravensburg beliefert er jene Menschen mit dem Nötigsten, die das Haus wegen des grassierenden Coronavirus nicht verlassen dürfen oder wollen. „Ich hab keine Angst“, sagt der selbstständige Finanzkaufmann, der sich fit und gesund fühlt, über die Gefahr des Coronavirus – und stürzt sich ins Einkaufsgetümmel.
Die Diakonie hat Mitte März spontan nach Zusage von sechs Ehrenamtlichen einen Einkaufsdienst auf die Beine gestellt. Inzwischen hat sich die katholische Gesamtkirchengemeinde angeschlossen, und die Zahl der Ehrenamtlichen ist innerhalb einer Woche auf 25 gestiegen. Deshalb können ab Mittwoch, 25. März, nicht nur Einkäufe im Auftrag erledigt werden, sondern auch Medikamente aus der Apotheke abgeholt werden, wie Diakon Gerd Gunßer mitteilte.
Jürgen Schmid steigt in sein Privatauto und macht sich zunächst auf den Weg zu einer Bäckerei. Ob er Spritkosten zurückbekommt, darüber hat er sich keine Gedanken gemacht, wie er sagt. „Es geht im Moment nur noch ums Überleben, nicht ums Geld. Ich kann es mir im Moment leisten, also mache ich es“, sagt er über den Einkaufsdienst.
In der Bäckerei gibt es das Mischbrot nicht, das auf dem Einkaufszettel einer betagten Dame steht. Schmid muss eine Alternative aussuchen. Für fremde Menschen einzukaufen, ist gar nicht so einfach. Wenige Minuten später kann er die BäckereiEinkäufe schon bei der vermeintlichen Bestellerin abgeben. Doch die öffnet verwundert die Tür – es sei vermutlich ihr Patenkind gewesen, sagt sie, das in einer anderen Stadt lebe und ihr so doch aus der Ferne den Gang vor die Haustür ersparen wolle. Sie will mit Bargeld bezahlen, obwohl eigentlich eine Überweisung an die Diakonie vorgesehen ist, um den Kontakt zwischen Einkäufer und Beliefertem möglichst zu vermeiden. Schmid nimmt der
Einfachheit halber das Geld entgegen und verabschiedet sich.
Gerade ältere Menschen, die schlecht hören, ihren Geldbeutel einfach herüberreichen, um jemanden das Geld heraussuchen zu lassen, Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, können in dieser Zeit auch leicht Opfer von Betrügern werden. „Ich finde es traurig, dass es Menschen gibt, die in der Not ihren kriminellen Geschäften nachgehen“, sagt Gunßer. Zur Sicherheit setze die Diakonie nur noch auf Überweisung und nehme kein Bargeld mehr von den Belieferten an und rate davon ab, Geld für den Einkaufsdienst vor der Haustür zu deponieren. Die Ehrenamtlichen der Diakonie tragen ein Namensschild. Die Polizei gibt immer wieder Hinweise, worauf man nicht hereinfallen sollte.
Für Schmid steht an seinem ersten Einsatztag die größte Herausforderung noch bevor: In einem Supermarkt hat er drei Großeinkäufe zu erledigen. Er jongliert mit den Einkaufszetteln, die eine weitere Ehrenamtliche geschrieben hat, nachdem sie am Telefon Bestellungen aufgenommen hat. Beim nächsten Mal will er eine
Mappe mitnehmen, wo er die Unterlagen unterbringen kann.
„Viele Selbstverständlichkeiten sind jetzt weggebrochen“, sagt er über das Leben in der Corona-Krise. „Es ist nicht selbstverständlich, dass wir täglich goldene Hühner auf dem Teller haben.“Seiner Einschätzung nach wird sich die Gesellschaft durch diese Erfahrung gravierend verändern. Und darauf hofft Schmid sogar. „Ich wünsche mir, dass der Egoismus dadurch stark dezimiert wird“, sagt er, „dass das Miteinander mehr zählt, Familie und Freunde, wie in meiner Kindheit.“Die Menschen müssten wieder erkennen, was ihn alles „geschenkt“wurde – „und dabei ist es egal, ob man an Gott oder das Universum glaubt“, fügt er hinzu.
Nachdem er sich knapp eine Stunde durch den Supermarkt gearbeitet und die Einkäufe in drei Tüten verstaut hat, geht es an die Auslieferung. Auf einem Zettel steht bei der Adresse der Bestellerin: „In Quarantäne!“. Schmid hat die Anweisung, die Tasche vor die Tür zu stellen, zu klingeln und wieder zu gehen. Wer in der Region arbeitet, jetzt zum Hüten des Hauses verpflichtet ist und keine Familie
in der Nähe hat, kann aufgeschmissen sein. Einige Häuserblocks weiter öffnet dem Einkaufsservice ein Senior die Haustür, um die abgestellte Tüte ins Haus zu holen. Er sei schon zum zweiten Mal beliefert worden, sagt er. Seine Kinder hätten ihn gebeten, den Dienst zu nutzen. Sie würden ihm die „Hölle heiß machen“, wenn er jetzt noch einkaufen ginge, wie er erzählt.
Nachdem Schmid die dritte Tüte vor einer weiteren Haustür abgestellt hat, ist sein erster Einkaufsdienst geschafft und er ist selbst auch zufrieden. „Ich habe die Grundeinstellung: Wenn es durch mein Sein auf dieser Erde manch anderem ein bisschen besser geht, dann hat sich mein Leben gelohnt.“
Wer in der Corona-Krise nicht aus dem Haus gehen darf oder möchte, kann Bestellungen unter folgenden Telefonnummern abgeben: 0751 / 29590416 (Montag bis Freitag, 10 bis 12 Uhr) und 0751 / 3619617 (Montag bis Freitag, 9 bis 12 Uhr, Donnerstag auch von 14 bis 16 Uhr).