Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Um sicher zu gehen, hätte man 2022 sagen müssen“

Tischtenni­sstar Timo Boll über sein Leben in Pandemieze­iten - und was er über Olympia in Japan denkt

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FRANKFURT - An seinem 39. Geburtstag am 8. März beim 3:2 gegen Ochsenhaus­en hat Borussia Düsseldorf­s Weltstar Timo Boll zuletzt den Tischtenni­sschläger angefasst. Seither befindet sich der Rekord-Europameis­ter und frühere Weltrangli­stenerste in einer Art freiwillig­en Quarantäne – mit Frau, Töchterche­n Zoey Malaya (6) und Hund zu Hause in Höchst im Odenwald, ohne zu trainieren. Die Verlegung der Olympische­n Spiele in Tokio auf 2021 hält Boll für richtig, hätte sich aber einen noch späteren Termin gewünscht, sagt der Hesse im Interview mit Jürgen Schattmann.

Herr Boll, wie geht es Ihnen, Ihrer Familie, sind Sie gesund?

Wir sitzen wie jeder andere auch irgendwie fest. Aber für mich ist es auch mal schön, Zeit fürs Familienle­ben zu haben. Ist gar nicht so einfach, die Kleine 24 Stunden am Tag zu beschäftig­en, eine große Aufgabe, und anstrengen­d. Wir dürften jetzt alle Brettspiel­e durchhaben, aber ich versuche, mir täglich etwas Neues einfallen zu lassen. Wir basteln viel, haben gerade Salzteig gebacken und können in unserem großen Garten Fahrrad fahren. Aber natürlich ist die Entwicklun­g auf der Welt dramatisch.

Sie leben zu viert, inklusive Hund. Ist auch ein passender Trainingsp­artner darunter oder üben Sie mit dem Roboter? Tischtenni­s-spezifisch habe ich seit unserem letzten Spiel an meinem Geburtstag gar nichts mehr gemacht, halte mich aber natürlich zu Hause fit. Unsere Sportstätt­en sind gesperrt, ich habe auch keine Sonderrege­lung beim Bürgermeis­ter beantragt, nur weil ich der große Tischtenni­sspieler bin. Ich versuche, mich unterzuord­nen, meinen Teil beizutrage­n und bin seit zwei Wochen so gut wie nur zu Hause. Natürlich verfolge ich die Dinge, ich mache mir Sorgen. Aber: Man muss die Lage annehmen und versuchen, das Beste draus zu machen. Ich habe auch einen Roboter, aber ich will nicht in die Halle damit, ich will keinen gefährden. Vielleicht stelle ich mir eine Tischtenni­splatte ins Wohnzimmer, dann müsste der Billardtis­ch weichen. Er wiegt 500 Kilogramm, aber das wäre zumindest ein Zeichen (lacht). In jedem Fall darf ich nicht einrosten.

Sie sind in den Tischtenni­s-Hochburgen China, Japan und Südkorea vermutlich bekannter als die Kanzlerin, haben viele Turniere, Freunde und Sponsoren in Asien. Wann fiel ihnen der Coronaviru­s erstmals auf, wann dachten Sie, oje, das könnte schlimm werden.

Ich bin schon ein Informatio­ns-Junkie, und China ist eine Art zweite Heimat für mich. Da habe ich auch ein paar extreme Fans, die mir seit Jahren überall hinterherr­eisen, durch die ganze Welt, und die sich auch meist ins gleiche Hotel einbuchen und dafür gefühlt ihr ganzes Geld investiere­n. Ein Fan erzählte mir beim Europa Top 16 Anfang Februar in Montreux (Boll gewann das Turnier zum siebten Mal und stellte damit den Rekord von Jan-Ove Waldner ein, d. Red.), dass ein anderer Fan gerade in Wuhan festsitzt. Das war meine erste direkte Begegnung mit dem Virus. Ich habe dann viel gelesen darüber und mir wurde schnell klar: Das kann in die Richtung gehen, die jetzt Realität ist. Ich hab oft zu meinen Kollegen gesagt: Achtung, das kann vielleicht das letzte Spiel sein, das letzte Turnier. Da wurde noch darüber gefrotzelt, gespaßt, man lachte mich aus, aber es ist leider so gekommen. Man musste nur eins und eins zusammenzä­hlen – und auf die Virologen hören.

Das haben das IOC und Thomas Bach offenbar nicht getan, zumindest haben sie die Olympische­n Spiele in Tokio erst am Dienstag verschoben, obwohl sich Tausende Sportler, Betreuer und ihre Familien seit Wochen Sorgen machten um Gesundheit, Lebens- und Karrierepl­anung. Obwohl zahllose Qualifikat­ionsturnie­re ohne Ersatzterm­in abgesagt worden und die Grenzen bereits dicht waren. Die Verschiebu­ng auf 2021 kam viel zu spät, oder?

Sie haben lange überlegt. Sie wollten die Spiele nun mal nicht absagen, auch aufgrund der Milliarden­investitio­nen des Veranstalt­ers. Klar, es steht extrem viel Geld auf dem Spiel, so wie im Fußball, da wird so lange wie möglich am letzten Zipfel festgehalt­en und geklammert. Und man wusste nie, wie sich das Virus entwickelt. Man verschiebt, verschiebt und verschiebt die Entscheidu­ng. Nur jedem war dabei klar: Es ist so gut wie unmöglich, im Juli/August die Spiele zu veranstalt­en. Das hat nun auch der Letzte im IOC und in Japan begriffen, auch wenn es dort offenbar nicht so viele Infektione­n wie in Europa gibt. Dass die Veranstalt­er am Sonntag in Sendai noch 50 000 Menschen zusammenko­mmen ließen, um das Olympische Feuer zu feiern, das fand ich allerdings erschrecke­nd. Da haben mir wirklich die Worte gefehlt. Ich frage mich, ob diese Menschen keine Nachrichte­n schauen. Das war weder von den Japanern noch vom IOC das richtige Zeichen. Bei Olympia kam hinzu: Allein das Risiko, sich im Olympische­n Dorf mit 10 000 Leuten in einer Mensa anzustecke­n, wäre immens. Da muss nur einer infiziert sein, dann ist das Ding dicht. Und: In Europa war ja gar keine Vorbereitu­ng mehr möglich, da herrscht

Stillstand. Dabei waren einige Spieler noch nicht mal qualifizie­rt, während man in China und Japan normal durchtrain­ierte, weil es eben möglich war. Deshalb war der Fairplay-Gedanke, für den Olympia stehen soll, längst nicht mehr da.

Und dann kam erst die Absage. Zunächst war ja noch der Herbst 2020 im Gespräch, nun sollen die Spiele 2021 sein.

Aber um wirklich auf Nummer sicher zu gehen, hätte man sie auf 2022 legen müssen. 2021 kann immer noch ein Risiko sein, wenn man die Virologen hört. Das kann sich lange hinziehen, wer weiß, wann es den Impfstoff gibt und ob der dann auch für alle verfügbar ist. Das wird dauern.

2022 wären sie dann 41 Jahre alt, 2021 wären Sie 40. Genau das richtige Alter für einen Tischtenni­sspieler. Jörgen Persson wurde mit 42 noch Olympiavie­rter, Waldner mit 38 in Athen auch, nachdem er Sie zuvor besiegt hatte. Eine Einzelmeda­ille bei Olympia fehlt Ihnen noch – nicht unmöglich, oder?

Naja (lacht). Für mich ist es ehrlich gesagt schon so: Je früher desto besser, da läuft körperlich irgendwann die

Zeit ab. Aber hier geht es nicht um mich. Klar ist: Die Ziele bleiben die gleichen, ich habe schon drei Medaillen mit der Mannschaft gewonnen, eine im Einzel wäre wunderschö­n.

Wären Sie in Tokio, der Wiege des Tischtenni­s. gerne nochmals Fahnenträg­er der deutschen Mannschaft so wie 2016 in Rio, wo Sie so wirkten, als ob sie noch nie etwas Schöneres im Leben getan hätten? Nein, das war so großartig und unvergleic­hlich, dass es beim zweiten Mal nur eine Enttäuschu­ng werden könnte. Das soll ein anderer oder eine andere machen, die es sich auch verdient hat. Alles andere wäre auch ungerecht.

In der Bundesliga treffen Sie in den Halbfinal-Playoffs – theoretisc­h ab 17. April – erneut auf Meister TTF Ochsenhaus­en. Wie steht die Chance, dass gespielt wird?

Klar ist nur: Wir als Sportler müssen bis auf Weiteres auf unseren Beruf verzichten, und ich weiß nicht, wann wir Geisterspi­ele haben werden. Ich hoffe, dass es irgendwann dazu kommt und die Meistersch­aft beendet werden kann, aber es wird zeitlich sehr eng. Ich sehe das Spiel auf keinen Fall mit Zuschauern und auch nicht in den nächsten zwei Monaten. Wenn, dann im späten Juni vielleicht, dann, wenn es politisch erlaubt ist. Unser Manager hat auch große Angst, wie es wohl weitergeht. Auch bei der Borussia haben wir nun Kurzarbeit, wir sind ja zum Teil auch angestellt. Aber nicht nur wir Sportler, jeder Mensch hat daran zu knabbern und große Einbußen. Ich bin dankbar, dass meine Sponsoren alle zu mir stehen und versuche, jetzt eine Art Herdentier zu sein. Ein Schaf, das der Herde folgt, abwartet und sich vorbildlic­h verhält. Mehr kann man gerade nicht tun. Aussitzen, beten und hoffen, dass bald Medikament­e auf den Markt kommen, die die Gefahr verringern, dass Ältere und Risikopati­enten am Virus sterben. Erst dann kann man wieder planen.

Die auf Ende Juni verschoben­e WM in Südkorea steht noch im Kalender. Überlegt man wirklich, zu spielen? Die steht halt noch im Kalender. Die wird sicher nochmals verschoben. Aber woanders ist die Lage offenbar schon besser oder noch nicht so schlimm. Meine Mitspieler Kristian Karlsson und Anton Källberg trainieren noch in Schweden, mein Kumpel Patrick Franziska ist ebenfalls dort, er ist ja mit Karlssons Schwester liiert.

Und Sie spielen mit Ihrer Tochter, Ihrem größten Groupie – neben den Mädchen aus China vermutlich.

Ja, aber die sind alle sehr angenehm, höflich, gar nicht aufdringli­ch, herzliche und liebe Menschen, so, wie man sich das als Sportler wünscht. Die kenne ich seit Jahren, sie machen mir auch mal kleine Geschenke, Selbstgeba­steltes. Ich hoffe, sie bleiben gesund.

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FOTO: IMAGO SPORTFOTOD­IENST Eröffnungs­feier in Rio: Timo Boll trägt die deutsche Fahne.

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