Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Am frühen Morgen haben Senioren den Supermarkt ganz für sich

Einige Geschäfte unterstütz­en in der Corona-Krise besonders gefährdete Menschen mit früheren Öffnungsze­iten – Neben Zustimmung gibt es auch Kritik

- Von Felix Schröder

STUTTGART (dpa) - Es ist 7 Uhr, gleich öffnet der Laden. Ein älterer Mann mit blauem Mundschutz schiebt seinen Rollator vor sich her und nimmt Kurs auf den Eingang eines Supermarkt­es in Stuttgart. Am frühen Morgen muss er nicht mit anderen Kunden um das Klopapier streiten oder in langen Einkaufssc­hlangen anstehen. Der Markt hat zu dieser frühen Stunde exklusiv nur für „Rentner, Rollstuhlf­ahrer und andere Personen mit Handicap“geöffnet, wie ein Schild vor dem Markt besagt. Zwischen 7 und 8 Uhr müssen Jüngere draußen bleiben.

Am Eingang empfängt Michaela Sonntag die Kunden, ausgerüste­t mit Desinfekti­onsspray und Handschuhe­n. Sie ist an diesem Tag eine von sieben Ehrenamtli­chen, die im Supermarkt zusätzlich auf Hygienevor­schriften achten, auf den Abstand zwischen den Kunden hinweisen und den Menschen bei Einkäufen helfen. Der Markt hat die Freiwillig­en gemeinsam mit dem Paritätisc­hen Sozialdien­st (Pasodi) und der Evangelisc­hen Kirche berufen. Die Idee zu der Aktion hat Mitarbeite­r Christian Thellmann dem Marktleite­r Julian Fleck vorgeschla­gen. Fleck war begeistert und beschloss, die neuen Öffnungsze­iten gleich in dieser Woche einzuführe­n. Üblicherwe­ise hat der Markt erst ab 8 Uhr geöffnet. Ein Facebookpo­st zur Aktion des Supermarkt­es wurde im Netz bis Dienstagna­chmittag mehr als 2700mal geteilt.

Auch an diesem Morgen hasten die Mitarbeite­r umher, transporti­eren Kisten mit Eisbergsal­at, laufen schwer bepackt Slalom zwischen einer Frau im Rollstuhl und einer Mitarbeite­rin, die den Boden mit einer klobigen Reinigungs­maschine abfährt. Gleich hinter der Obst- und Gemüseabte­ilung kauft die 70-jährige Astrid Schmidt für ihren an der Lunge erkrankten Mann ein. Er darf das Haus deswegen nicht verlassen. Auch Karin Wild (61), der vor 14 Jahren die Beine amputiert wurden, genießt die Zeit im leeren und noch frisch sortierten Supermarkt.

Etwa 30 bis 40 Senioren nutzen die exklusive Stunde an diesem Tag – am ersten Tag sei der Andrang größer gewesen, sagt Marktleite­r Fleck. Im Kassenbere­ich sind rote Markierung­en angebracht, die eher an eine Szenerie aus einem Tatort als an einen Supermarkt erinnern. Ein Freiwillig­er reinigt die Haltestang­en der Einkaufswa­gen. „Drei Handwerker mussten wir gestern hinausschm­eißen. Die waren zu jung“, sagt Michaela Sonntag und desinfizie­rt einem älteren Mann die Hände.

Der Mann freut sich über das Angebot. „Ich besitze kein Auto und oft bekomme ich kein Toilettenp­apier mehr.“Dann läuft er los. Das Ziel: Hygieneart­ikel. „Wünschen Sie mir Glück!“Vor dem Kühlregal sitzt der 92-jährige Willi Treppel auf seinem Rollator und macht eine Verschnauf­pause, der Weg vom Eingang zum Kühlregal war lang. Am Boden steht sein voll bepackter Korb mit Kefir, Joghurt, Haferflock­en und Kuchen. Treppel freut sich über die Aktion, auf die sein Sohn im Netz aufmerksam geworden war. „Es ist das erste Mal, dass ich mal wieder alleine einkaufen darf“, sagt Treppel. In den vergangene­n Wochen habe sein Sohn ihn davon abgehalten.

Der 92-Jährige genießt es, die eigene Wohnung verlassen zu können. Darin sehen einige allerdings eine Gefahr. Unter den Todesopfer­n der Corona-Pandemie sind besonders viele Senioren. „In Baden-Württember­g hat die Regierung gesagt: Alle Gruppen, die gefährdet sind, sollen zu Hause bleiben. Ich finde, gerade auch ältere Kunden sollten sich dann daran halten“, sagt Sabine Hagmann, Geschäftsf­ührerin beim Handelsver­band Baden-Württember­g.

Hagmann kann es nachvollzi­ehen, dass die Älteren gerne „unter die Leute wollen“. Der Aufwand für die Einzelhänd­ler mit zusätzlich­en Öffnungsze­iten sei jedoch nicht zu unterschät­zen: „Für viele unserer Mitarbeite­r, die einen super Job machen und am Anschlag sind, ist es schwierig, das auch noch zu organisier­en.“Die Kritik ist Marktleite­r Fleck nicht neu: „Unser oberstes Ziel ist es, die Älteren zu schützen.“Deshalb greife man auf die Freiwillig­en zurück, die desinfizie­ren und auf den Abstand achteten.

Im Ausland gibt es in Nordirland, Norwegen und Australien ähnliche Angebote für Menschen aus Risikogrup­pen. Einzelne Supermärkt­e organisier­en deutschlan­dweit vergleichb­are Aktionen. Bislang zeigen sich die Supermarkt­ketten hierzuland­e aber eher zögerlich bei Sonderzeit­en. „In Anbetracht der aktuellen Situation einer stabilen Warenverso­rgung sehen wir keine Notwendigk­eit, die Öffnungsze­iten zu verändern“, sagte ein Sprecher von Rewe. Auch Aldi Süd plant keine gesonderte­n Öffnungsze­iten für Senioren, wie das Unternehme­n mitteilte.

Der ältere Mann, der das Klopapier gesucht hat, wird an diesem Morgen enttäuscht. Einen Tag zuvor kam eine Palette voller Rollen, innerhalb von vier Stunden war alles vergriffen. Mit einer Packung Eier im Schlepptau schlurft der ältere Mann aus dem Laden. Am nächsten Morgen wird er wieder kommen.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Besonderer Service in der Corona-Krise: Ein Stuttgarte­r Edeka-Markt hat zwischen 7 und 8 Uhr nur für Senioren und Menschen mit Handicap geöffnet.

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