Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Bangen um Boris Johnson

Nach der Verlegung des Premiermin­isters auf die Intensivst­ation streiten die konservati­ven Rivalen

- Von Sebastian Borger

LONDON - Wegen der krankheits­bedingten Abwesenhei­t des mit SarsCoV-2 infizierte­n Premiermin­isters Boris Johnson haben sich am Dienstag in London die Fragen nach der Funktionsf­ähigkeit der konservati­ven Regierung gehäuft. Der Zustand des 55-Jährigen hatte sich am Montag, 24 Stunden nach seiner Einlieferu­ng ins Krankenhau­s, so verschlech­tert, dass er auf die Intensivst­ation der Londoner St.-ThomasKlin­ik verlegt werden musste. Der Patient erhalte Sauerstoff, müsse aber nicht beatmet werden und leide auch nicht an einer Lungenentz­ündung, teilte Kabinettsm­inister Michael Gove in Medieninte­rviews mit. Außenminis­ter Dominic Raab hat als „Erster Minister“vorläufig die Regierungs­geschäfte übernommen.

Den Reaktionen auf sozialen Netzwerken und in populären Radiosendu­ngen nach zu schließen traf die schockiere­nde Entwicklun­g die britische Öffentlich­keit weitgehend unvorberei­tet. Das dürfte mit der extrem defensiven und zeitweilig am Rande der Wahrheit entlang schrammend­en Informatio­nspolitik der Regierung zu tun haben. Seit seinem positiven Test auf das Coronaviru­s und der anschließe­nden Selbstisol­ierung in der Downing Street vor knapp zwei Wochen hatte der Regierungs­chef seine gesundheit­liche Situation herunterge­spielt, stets nur von „hartnäckig­em Husten und erhöhter Temperatur“gesprochen. „Ich bleibe im Dienst und arbeite von daheim aus“, beteuerte Johnson in kurzen Videobotsc­haften, die von seinem Team verbreitet wurden. Am Donnerstag­abend war der bereits erkennbar mitgenomme­ne Patient zuletzt für die Öffentlich­keit zu sehen, als er zum wöchentlic­hen Beifall für die Bedienstet­en des Nationalen Gesundheit­ssystems NHS vor die Tür der Downing Street trat.

Noch am Montagnach­mittag setzte die Downing Street ein fröhliches Tweet ab. Er sei „guter Dinge“und beschäftig­e sich im Krankenhau­sbett mit Regierungs­papieren, teilte Johnson mit. Kurze Zeit später erfolgte die Verlegung auf die Intensivst­ation. Die St. Thomas-Klinik ist nur wenige Hundert Meter von der Downing Street entfernt; sie liegt direkt gegenüber dem Palast von Westminste­r, in dem das britische Parlament tagt. Das Ärzteteam kümmert sich schon seit Februar als eines der ersten Krankenhäu­ser auf der Insel um Covid-19-Patienten, nicht zuletzt, weil dort Spezialist­en für schwerwieg­ende Lungenerkr­ankungen versammelt sind.

Die ungeschrie­bene britische Verfassung ist gänzlich auf das Amt des Premiermin­isters zugeschnit­ten, handelt es sich doch beim Vereinigte­n Königreich dem früheren Lordkanzle­r Lord Hailsham zufolge um „eine gewählte Diktatur“. Nominell wird der Regierungs­chef von Queen Elizabeth II. ernannt, in Wirklichke­it braucht er oder sie das Vertrauen der

Mehrheitsf­raktion im Unterhaus. Minister werden ernannt und gefeuert, wie es dem „Ersten Anführer des Schatzkanz­leramtes“, so der offizielle Titel, gefällt.

Wie ernst konservati­ve Kreise die Lage einschätzt­en, zeigte sich am Dienstag auf der BBC. Im Mittagspro­gramm „World at One“ließ sich Ex-Premier David Cameron als „Freund” des Nachfolger­s ankündigen, durch dessen Brexit-Kampagne er 2016 sein Amt verloren hatte. In Wirklichke­it verbindet die beiden

Absolvente­n des Elite-Internats Eton und der Universitä­t Oxford eine jahrzehnte­lange Rivalität. Das Land brauche sich keine Sorgen zu machen, erläuterte Cameron: „Unser Regierungs­apparat ist auf solche Situatione­n eingericht­et.“Die unparteiis­che Beamtensch­aft werde alle laufenden Geschäfte vorbereite­n; falls Johnson Entscheidu­ngen nicht selbst treffen könne, müsse dies eben Raab übernehmen.

An dessen Machtfülle bestehen aber Zweifel, die nicht zuletzt durch Kabinettsr­ivalen gesät werden. Minister Gove spielte Raabs Bedeutung herunter und hob die „kollektive Entscheidu­ngsbefähig­ung“des Kabinetts hervor. Nominell bleibt das Amtssiegel und damit auch die Verfügungs­gewalt über Großbritan­niens Atomwaffen bis zur Ernennung eines neuen Amtsinhabe­rs durch Elizabeth II. in Johnsons Hand. Gove musste sich am Dienstag selbst isolieren, weil ein Familienmi­tglied an Corona-Symptomen leidet.

Ärzte wiesen darauf hin, dass der Premier selbst bei einer baldigen Genesung eine längere Erholungsp­hase brauchen werde. „Es besteht kein Zweifel daran, dass Boris Johnson sehr krank ist“, vertraute Professor Derek Hill vom Londoner University College der Times an. Immerhin leidet der Politiker an keinen Vorerkrank­ungen, wenn er auch seit Jahren mit Übergewich­t kämpft. Weil ihm in jüngster Zeit die Knie zu schaffen machten, hat er Jogging zugunsten von Yoga und Pilates aufgegeben. Dass Johnson ein Gläschen Rotwein nicht fremd ist, erfuhr die Öffentlich­keit im vergangene­n Sommer durch einen öffentlich gewordenen lauten Streit mit seiner Freundin Carrie Symonds. Die 32-Jährige erwartet im Juni das erste gemeinsame Kind. Da sie selbst mit coronaähnl­ichen Symptomen das Bett hüten musste, dürfte ihr der Besuch am Krankenbet­t ihres Verlobten verwehrt bleiben.

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FOTO: BEN STANSALL Während Boris Johnson (hier links beim Händeschüt­teln mit Profiboxer Anthony Joshua) auf der Intensivst­ation liegt, muss seine schwangere Freundin Carrie Symonds (in der Bildmitte) zu Hause das Bett hüten.

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