Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Noch traut Frau Sun der neuen Freiheit nicht ganz
In Wuhan soll nach elf Wochen Isolation Normalität einkehren – Die Sorge, sich zu infizieren, nimmt das niemand
WUHAN (dpa) - „In einer großen Epidemie müssen die Menschen Opfer bringen“, findet Frau Sun. Mehr als zwei Monate hat die 65-Jährige ihre Wohnung in Wuhan nicht verlassen. „Es war absolut notwendig“, sagt sie zu den – weltweit wohl striktesten – Ausgangssperren in der Metropole, dem Ursprungsort der Pandemie in Zentralchina. Elf Wochen nachdem Wuhan weitgehend von der Außenwelt abgeschottet worden war, fielen am Mittwoch (Ortszeit) die letzten Bewegungsbeschränkungen für die elf Millionen Bewohner.
Der innerstädtische Verkehr wurde wieder normalisiert. Der Flughafen nimmt seine Flüge wieder auf. Kontrollposten auf den Straßen wurden abgezogen. Autos dürfen die Stadt wieder verlassen, und die Menschen auch wieder mit dem Zug wegreisen. Voraussetzung ist, dass sie gesund sind und in einer jetzt überall in China eingesetzten Corona-Gesundheits-App auf ihrem Handy einen grünen Code nachweisen können. Wer aber irgendwie Kontakt zu Infizierten hatte, wird automatisch auf Rot gesetzt und darf nicht reisen.
Die Öffnung von Wuhan, wo das später Sars-CoV-2 genannte neue Coronavirus im November oder Anfang Dezember seinen Ausgang genommen hat, ist für China ein wichtiges Signal, das Schlimmste überwunden zu haben. Von den mehr als 81 000 offiziell gemeldeten Infektionen waren 50 000 allein in Wuhan. Auch waren von den mehr als 3300 aufgelisteten Toten durch Covid-19 in China mehr als 2500 in der Metropole zu beklagen – auch wenn wohl bei Weitem nicht alle Fälle mitgezählt wurden.
Jetzt werden in Wuhan die Barrikaden weggeräumt, die Bewohner in ihren Häusern gehalten hatten. Nachdem schon seit Tagen in China kaum noch neue Infektionen und nur noch „importierte Fälle“gemeldet worden waren, wies die Statistik am Dienstag erstmals keinen neuen Toten mehr auf. Passend zur Öffnung von Wuhan – vorausgesetzt, die Statistik stimmt, woran es allen Zweifel gibt. Frau Sun indes hat es gar nicht eilig. „Ich werde noch eine Weile zu Hause bleiben und nur nach draußen gehen, wenn es unbedingt sein muss“, sagt die pensionierte Finanzexpertin. „Seid vorsichtig!“, lautet ihr Rat. „Eine ansteckende Krankheit ist nicht das Problem einer einzelnen Person, sondern der ganzen Familie.“
Jetzt sorgt sich Frau Sun vor allem um eine Ansteckung durch Infizierte, die keine Symptome zeigen oder von außerhalb Wuhans kommen. Gerade die Risikogruppe über 60 Jahren solle vorsichtig bleiben, „um keine Belastung für die Familie und Gesellschaft zu werden“. Die 65-Jährige erzählt, dass sie sich in der Isolation in ihrer Wohnung mit rhythmischer Gymnastik fit gehalten habe – dreimal am Tag. Auch habe sie gesungen, Gedichte rezitiert und Nachrichten verfolgt. Gemüse und Fleisch zum Kochen sei an die Haustür geliefert worden.
Ihre Tochter lebt in Australien. „Als die Epidemie in Wuhan so schlimm war, hat sie sich Sorgen gemacht. Jetzt mache ich mir Sorgen um sie“, sagt Frau Sun. „Vieles ist besser dort, aber die Prävention ist nicht so gut wie bei uns.“Anfangs sei in Wuhan einiges nicht so gut gelaufen. Es habe viel Unwissenheit gegeben, sagt Frau Sun. Aus ihrer Sicht reagieren aber andere Länder zu zögerlich. „Selbst jetzt, wo die Leute in der Welt die Krankheit kennen, sind ihre Präventionsmaßnahmen verspätet.“
Ein Vorwurf, den die Schriftstellerin Fang Fang sehr wohl auf Wuhan und die umliegende Provinz Hubei mit zusammen rund 56 Millionen Menschen münzt. „Am traurigsten war der Tod“, sagt die 64-jährige Bloggerin, die mit ihrem Tagebuch aus Wuhan zu einer der meist gelesenen Autorinnen Chinas aufstieg. Und: „Was mich am meisten verärgert hat, war die Verzögerung von fast 20 Tagen am Anfang des Ausbruchs, der diese ernste und chaotische Lage entstehen ließ – eine Katastrophe von Menschenhand.“