Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Wir finden polarisierte Klassengesellschaften“
Kreisarchivar Edwin Ernst Weber forscht über „Arm und Reich auf dem Dorf“vor 200 Jahren
RAVENSBURG - Wie haben die Menschen vor 200 Jahren gelebt? Vor allen diejenigen, die arm waren? Hatten auch sie Rechte? Edwin Ernst Weber, Kulturreferent des Landkreises Sigmaringen und Archivdirektor, beschäftigt sich zur Zeit intensiv mit der Sozialgeschichte in oberschwäbischen Dörfern vom 17. bis 19. Jahrhundert. Barbara Miller hat sich mit dem Historiker unterhalten.
Arm und Reich auf dem Dorf – wie war die Macht verteilt?
In den Dörfern an der Oberen Donau wie am Oberen Neckar finden wir vor 200 und 300 Jahren weithin polarisierte Klassengesellschaften. Ein Drittel der Bewohner sind begüterte Lehensbauern. Die Mehrheit aber stellen Taglöhner, die in prekärer Armut leben. Mit ihrem bescheidenen Feldbesitz, Lohndiensten für Bauern, Adel und Klöster sowie handwerklichen Betätigungen können sie ihre Familien nur mühsam ernähren. Die Bauern haben in den Dorfgemeinden auch politisch das Sagen und reservieren die führenden Gemeindeämter unter Ausschluss der Armen lange weitgehend für sich.
Auf welche Quellen können Sie für diese Zeit und diese Fragen zurückgreifen?
Ab dem 17. Jahrhundert finden sich für die allermeisten Dörfer sogenannte Urbare, Lagerbücher und Steuerkataster zu den Besitz- und Vermögensverhältnissen. Die herrschaftlichen Amtsprotokolle bieten Einblicke in die innerdörflichen Sozialund Konfliktverhältnisse. Wichtig sind weiterhin frühe statistische Quellen zur Bevölkerungsentwicklung, zu Ackerbau, Viehbeständen und Ernteerträgen und auch zur Gewerbeausstattung der Dörfer. Die innerdörflichen Sozialkonflikte schließlich schlagen sich in zahllosen Vergleichsverträgen und obrigkeitlichen Bescheiden nieder.
Wer ist mit „unterbäuerliche Schichten“gemeint?
Das sind die Dorfbewohner, die unterhalb der Lehensbauern stehen, die die Dörfer und Gemeinden wirtschaftlich, sozial und politisch dominieren. Die Bandbreite ist groß. Sie reicht von den Randexistenzen der zumeist nur in Miete und bitterster Armut lebenden sogenannten Hintersassen oder Beisitzer ohne Bürgerrecht über die landarmen Seldner, die ihre bescheidenen Einkünfte aus geringem Feldbesitz, Taglohndiensten und handwerklicher Betätigung beziehen, bis zu einzelnen Aufsteigern, die Eigenfelder erwerben, Zugtiere besitzen und besonders vehement Gleichberechtigung und Mitbestimmung von den Bauern einfordern. Gemeinsam ist den unterbäuerlichen Dorfbewohnern eine wirtschaftliche und politische Deklassierung.
Hatten auch die irgendeine Möglichkeit, gehört zu werden?
Das war sehr unterschiedlich in den einzelnen Dörfern und Territorien. In den Wachstumsphasen des 16. und des 18. Jahrhunderts bildeten die Dorfarmen allmählich die Mehrheit. Sie kämpften um die gleichberechtigte Teilhabe an der genossenschaftlichen Nutzung der allen Dorfbewohnern dienenden Weiden und Waldungen. Sie forderten auch Mitsprache in der Gemeindeversammlung, im Dorfgericht und bei der Rechnungsabhör. Das ist eine öffentliche Prüfung der Gemeinderechnung und damit eine Kontrolle der kommunalen Finanzverwaltung durch die Bürgerschaft. Trotz aller Obstruktion der Bauern führt ein protodemokratischer Emanzipationsprozess im 18. und 19. Jahrhundert letztlich zur bürgerlichen Gleichberechtigung auch der Armen im Dorf. Dass Frauen von den Bürgerund Mitspracherechten noch bis ins 20. Jahrhundert ausgeschlossen sind, darf indessen nicht verschwiegen werden.
Sie sind in Herbertingen auf eine ausgeprägte Streitkultur gestoßen.
Wie äußert sich das?
Dieser „Streitkultur“begegnet man auf mehreren Ebenen. Die Herbertinger wehren sich gegen die Ortsund Territorialherrschaft – zunächst der Truchsessen von WaldburgScheer und sodann der Fürsten von Thurn und Taxis. Der Widerstand richtet sich gegen herrschaftliche Leistungsforderungen und Eingriffe in die kommunale Autonomie. Sodann gibt es häufig Streitereien zwischen Gemeindebürgern und führenden Amtsträgern, denen Eigennutz und Vetternwirtschaft vorgeworfen wird. Und schließlich gibt es eine Konfliktlinie innerhalb des Dorfes zwischen Bauern, die Land besitzen, und den Seldnern, die wenig oder keines haben. Letztere können Ende des 18. Jahrhunderts unter der Anführung des Müllers und Unterammanns Zachäus Fürst die Mehrheit in der Gemeindeversammlung erlangen, Gehör bei der Obrigkeit finden und schließlich ihren Anspruch auf eine gleichberechtigte Aufteilung der Allmende durchsetzen.
Sie schreiben, einer der Wortführer habe 1790 mit einer „Pariser Affaire“
gedroht. Wie kam denn die Kunde von der Französischen Revolution nach Oberschwaben?
Die Nachrichten von der revolutionären Umwälzung in Frankreich seit 1789 erhielt auch die Bevölkerung an der oberen Donau durch Zeitungen wie etwa die bereits seit 1719 erscheinende „Riedlinger Freitagszeitung“, durch Flug- und andere Druckschriften und sicherlich auch durch mündliche Vermittlung etwa in Kirchenpredigten, aber auch in kursierenden Gerüchten. Es ist der erwähnte politisch selbstbewusste und streitbare Unterammann Zachäus Fürst, der 1790 die thurn-und-taxisschen Beamten mit seiner Drohung massiv erschreckt hat.