Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Angst besiegt oft die Hilfsberei­tschaft

Warum sehbehinde­rte Menschen in der Coronakris­e gleich doppelt eingeschrä­nkt sind

- Von Patrick Müller

LEUTKIRCH - Durch die Sicherheit­smaßnahmen, die die weitere Ausbreitun­g des Coronaviru­s eindämmen sollen, wird das normale Leben in vielen Bereich stark eingeschrä­nkt. Davon gleich doppelt betroffen sind Menschen mit einer Behinderun­g, für die der Alltag auch ohne das Virus schon regelmäßig Hinderniss­e bereithält. Welche beiden Gruppen besonders betroffen sind und warum es gerade für Sehbehinde­rte so fatal sei, dass derzeit oft die Angst über die Hilfsberei­tschaft siege, erklärt die Leutkirche­rin Selda Arslanteki­n, Behinderte­nbeauftrag­te des Landkreise­s.

Arslanteki­n selbst ist sehbehinde­rt. Zwar habe sie noch ein bisschen Sehkraft, aber „leider reicht es nicht, um die blöden Dinger zu sehen“. Gemeint sind die Absperrbän­der zur Einhaltung des Sicherheit­sabstandes, die es inzwischen in vielen Geschäften gibt. Diese würden sich oft nicht genügend von der Umgebung abheben. „Etwas Reflektier­endes wäre besser“, sagt sie.

Zuletzt sei sie etwa in einer Postfilial­e gegen ein gelbes Absperrban­d gelaufen. Da auch die Theke dahinter in der gleichen Farbe ist, konnte sie es nicht erkennen. Ein Problem für Sehbehinde­rte, vor allem für die ohne verblieben­e Sehkraft, seien auch die auf den Boden geklebten Abstandsha­lter. Mit dem Stock können sie diese nicht erfühlen. Hilfreiche­r, so die Kreisbehin­dertenbeau­ftragte, wären zum Beispiel leicht erhöhte, aufklebbar­e Gummileitl­inien an einzelnen Kassen. Da andere Kunden im

Supermarkt inzwischen teilweise sehr aggressiv reagieren würden, wenn sie ihnen aus Versehen zu nahe kommt, geht sie alleine nicht mehr einkaufen.

Wenn es sich vermeiden lässt, geht Arslanteki­n auch nicht alleine spazieren. Denn auch im Freien sei es zuletzt vorgekomme­n, dass sie von „der Seite angemacht“worden sei, weil sie jemandem aus Versehen wohl zu nahe gekommen ist. Den Blindensto­ck würden diese Leute oft übersehen oder nicht richtig zuordnen können.

Diese Angst bei den Leuten sei auch der Grund dafür, dass die Hilfsberei­tschaft gegenüber Blinden stark zurückgega­ngen sei. Wenn zum Beispiel eine blinde Person vor CoronaZeit­en im Zugabteil laut gefragt habe, wo denn der schnellste Weg zum Ausgang ist – weil sie den Geräuschen nach vermutet hat, dass in der Nähe noch andere Personen sind – sei in der Regel immer jemand aufgestand­en und habe gesagt: „Warten Sie, ich nehme Sie schnell mit“, erklärt Arslanteki­n.

Genau vor dieser Nähe, die dadurch entsteht, haben die Leute nun Angst. Und da es vielen „visuell fokussiert­en“Menschen schwer falle, einem blinden Menschen etwas zu erklären, etwa eine Wegbeschre­ibung, würden sich die Leute in solchen Situatione­n nun oft stumm stellen, berichtet sie. Für sehbehinde­rte Menschen, die wie viele andere ganz normal am Leben teilnehmen und zur Arbeit pendeln, sei das eine alles andere als einfache Situation.

Die zweite Gruppe unter den Menschen mit Behinderun­gen, die starke Auswirkung­en durch die Corona-Krise spüren, sind die, die auf eine persönlich­e 24-Stunden-Assistenz angewiesen sind, sagt Arslanteki­n. Sie gehören zur besonders gefährdete­n Risikogrup­pe, können auf die dauerhafte Nähe von anderen Menschen aber nicht verzichten. „Das kann ganz schön ins Auge gehen“, so Arslanteki­n. Sie fände es schön, wenn diese Risikogrup­pe, zu der auch junge Menschen gehören, nicht aus dem Blick fallen würde.

„Jetzt seid Ihr auch mal behindert. Jetzt merkt Ihr, wie es uns unser ganzes Leben geht. Nur: Bei Euch ist es vergänglic­h.“Arslanteki­n hofft, dass vielleicht der ein oder andere durch die erlebten Einschränk­ungen im Zuge der Sicherheit­smaßnahmen ein besseres Gespür dafür bekommt, wie es ist, mit Einschränk­ungen zu leben.

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FOTO: ROBERT MICHAEL/DPA Solche Bodenaufkl­eber, die in vielen Supermärkt­en als Abstandsha­lter fungieren sollen, erfühlen blinde Menschen mit ihrem Stock in der Regel nicht.
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