Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Angst besiegt oft die Hilfsbereitschaft
Warum sehbehinderte Menschen in der Coronakrise gleich doppelt eingeschränkt sind
LEUTKIRCH - Durch die Sicherheitsmaßnahmen, die die weitere Ausbreitung des Coronavirus eindämmen sollen, wird das normale Leben in vielen Bereich stark eingeschränkt. Davon gleich doppelt betroffen sind Menschen mit einer Behinderung, für die der Alltag auch ohne das Virus schon regelmäßig Hindernisse bereithält. Welche beiden Gruppen besonders betroffen sind und warum es gerade für Sehbehinderte so fatal sei, dass derzeit oft die Angst über die Hilfsbereitschaft siege, erklärt die Leutkircherin Selda Arslantekin, Behindertenbeauftragte des Landkreises.
Arslantekin selbst ist sehbehindert. Zwar habe sie noch ein bisschen Sehkraft, aber „leider reicht es nicht, um die blöden Dinger zu sehen“. Gemeint sind die Absperrbänder zur Einhaltung des Sicherheitsabstandes, die es inzwischen in vielen Geschäften gibt. Diese würden sich oft nicht genügend von der Umgebung abheben. „Etwas Reflektierendes wäre besser“, sagt sie.
Zuletzt sei sie etwa in einer Postfiliale gegen ein gelbes Absperrband gelaufen. Da auch die Theke dahinter in der gleichen Farbe ist, konnte sie es nicht erkennen. Ein Problem für Sehbehinderte, vor allem für die ohne verbliebene Sehkraft, seien auch die auf den Boden geklebten Abstandshalter. Mit dem Stock können sie diese nicht erfühlen. Hilfreicher, so die Kreisbehindertenbeauftragte, wären zum Beispiel leicht erhöhte, aufklebbare Gummileitlinien an einzelnen Kassen. Da andere Kunden im
Supermarkt inzwischen teilweise sehr aggressiv reagieren würden, wenn sie ihnen aus Versehen zu nahe kommt, geht sie alleine nicht mehr einkaufen.
Wenn es sich vermeiden lässt, geht Arslantekin auch nicht alleine spazieren. Denn auch im Freien sei es zuletzt vorgekommen, dass sie von „der Seite angemacht“worden sei, weil sie jemandem aus Versehen wohl zu nahe gekommen ist. Den Blindenstock würden diese Leute oft übersehen oder nicht richtig zuordnen können.
Diese Angst bei den Leuten sei auch der Grund dafür, dass die Hilfsbereitschaft gegenüber Blinden stark zurückgegangen sei. Wenn zum Beispiel eine blinde Person vor CoronaZeiten im Zugabteil laut gefragt habe, wo denn der schnellste Weg zum Ausgang ist – weil sie den Geräuschen nach vermutet hat, dass in der Nähe noch andere Personen sind – sei in der Regel immer jemand aufgestanden und habe gesagt: „Warten Sie, ich nehme Sie schnell mit“, erklärt Arslantekin.
Genau vor dieser Nähe, die dadurch entsteht, haben die Leute nun Angst. Und da es vielen „visuell fokussierten“Menschen schwer falle, einem blinden Menschen etwas zu erklären, etwa eine Wegbeschreibung, würden sich die Leute in solchen Situationen nun oft stumm stellen, berichtet sie. Für sehbehinderte Menschen, die wie viele andere ganz normal am Leben teilnehmen und zur Arbeit pendeln, sei das eine alles andere als einfache Situation.
Die zweite Gruppe unter den Menschen mit Behinderungen, die starke Auswirkungen durch die Corona-Krise spüren, sind die, die auf eine persönliche 24-Stunden-Assistenz angewiesen sind, sagt Arslantekin. Sie gehören zur besonders gefährdeten Risikogruppe, können auf die dauerhafte Nähe von anderen Menschen aber nicht verzichten. „Das kann ganz schön ins Auge gehen“, so Arslantekin. Sie fände es schön, wenn diese Risikogruppe, zu der auch junge Menschen gehören, nicht aus dem Blick fallen würde.
„Jetzt seid Ihr auch mal behindert. Jetzt merkt Ihr, wie es uns unser ganzes Leben geht. Nur: Bei Euch ist es vergänglich.“Arslantekin hofft, dass vielleicht der ein oder andere durch die erlebten Einschränkungen im Zuge der Sicherheitsmaßnahmen ein besseres Gespür dafür bekommt, wie es ist, mit Einschränkungen zu leben.