Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Neuentdeckung der Kelten
Der Südwesten war vor 2600 Jahren ein Zentrum des rätselhaften Volkes – Nun rückt es verstärkt ins öffentliche Bewusstsein
HUNDERSINGEN - Vor dem äußeren Graben anhalten, die Augen schließen und sich gedanklich in die Vergangenheit zurücktreiben lassen – in eine Zeit vor rund 2600 Jahren, als auf der Heuneburg keltisches Leben brodelte: Händler ziehen mit ihrer Ware durch ein monumentales Steintor, Schmiede hämmern im Handwerkerviertel, Kinder toben in den Gassen, Vieh läuft zwischen den Hütten, Krieger ziehen zur Oberstadt. Und von ihr aus leuchtet die weiß getünchte Lehmziegelmauer der dortigen Befestigungsanlage weit übers Land an der oberen Donau zwischen Sigmaringen und Riedlingen. Archäologen haben hierzu immer mal wieder betont: „Das muss damals für die Menschen sensationell gewesen sein.“Mag sein, wenn auch der normale Kelte sein Dasein in Hütten fristete.
Die geistige Zeitreise funktioniert gegenwärtig bei einem Besuch dieser keltischen Vorzeigestätte hervorragend. Was daran liegt, dass es auf ihrem Geländeplateau ungewohnt einsam ist. Höchstens Vogelgezwitscher stört das Kopfkino. Der Grund dafür heißt Corona. Wegen der Pandemie ist der Museumsbereich geschlossen. Wer will schon zum Zaun laufen, um bloß durch dessen Maschen zu schauen? Wohl kaum jemand. Deshalb ist dieser Tage auch ein kleines Ereignis untergegangen: der Übergang der Heuneburg-Betreuung von einem privaten Verein an die Landesorganisation Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg.
Wobei der Hintergrund der Neuorganisation gewichtiger ist. Sie steht im Zusammenhang mit einer Neuentdeckung der Kelten in Baden-Württemberg. Die hiesigen Landstriche waren ein zentraler Raum dieser zwischen achtem und erstem vorchristlichen Jahrhundert in weiten Teilen Europas auftretenden Volksstämme gewesen. Die Heuneburg gilt als eines ihrer Zentren. Dass dort nun die Staatlichen Schlösser und Gärten das Sagen haben, bedeutet unmittelbar Folgendes: Was museale Konzepte und touristische Vermarktung angeht, spielt die ehemalige Keltenstadt nun in einer höheren Liga.
Letztlich soll es aber Richtung Unesco-Kulturerbe gehen – so wie es bei antiken, beziehungsweise vorgeschichtlichen Hinterlassenschaften wie dem römischen Limes, den Pfahlbauten und Eiszeithöhlen der Schwäbischen Alb bereits geschehen ist. „Das Potenzial der Heuneburg für eine Nominierung zur Aufnahme in die Welterbeliste wird im Zusammenhang mit der Neuaufstellung der deutschen Vorschlagsliste geprüft“, wurde von der dafür zuständigen Wirtschaftsministerin Nicole HoffmeisterKraut (CDU) im vergangenen Jahr verlautbart. Vorausgegangen war eine Kleine Anfrage des örtlichen christdemokratischen Abgeordneten Klaus Burger.
Die Region sieht in einem möglichen Unesco-Titel eine Chance, mehr Touristen anzuziehen, so der Landkreis Sigmaringen, in dem die Heuneburg liegt. Landrätin Stefanie Bürkle, eine Förderin der Anlage, freut sich, wenn das Keltenerbe „heute wieder sichtbar und erlebbar wird“. Der Weg bis zum UnescoTitel ist aber steinig. Experten für solche Bewerbungen verweisen darauf, dass Einzelobjekte seit einiger Zeit kaum Chancen haben. Es müsse sich um mehrere Stätten handeln – und dies am besten noch international verknüpft, wird der Unesco-Zeitgeist beschrieben. So ist beispielsweise beim Titel für den Limes jede im Römischen Reich vorhandene Grenzanlage gemeint – bis hin zu Wüstenkastellen in der Euphrat-Gegend.
Folgerichtig hat sich die Landesregierung zumindest auf eine landesweite Keltenkonzeption geeinigt. Der Startschuss dazu wurde am 8. Januar 2019 gegeben. Mit dabei: natürlich die Heuneburg, von der Fachwelt seit Längerem als erste wirkliche Stadt nördlich der Alpen betitelt. Sie könnte das Pyrene des um 490 vor Christi Geburt geborenen griechischen Geschichtsschreibers Herodot sein. Unter diesem Namen verortete er eine Stadt grob in der Nähe der Donauquellen. Geografisch großzügig betrachtet, würde dies auf die Heuneburg zutreffen.
Neben dieser Anlage wird von der Keltenkonzeption auch der Heidengraben bei Grabenstetten im Norden der Schwäbischen Alb erfasst, eine keltische Stadt des ersten vorchristlichen Jahrhunderts. Ebenso der Ipf bei Bopfingen im Ostalbkreis. Der Berg mit seinen gewaltigen Wallanlagen wird von der Forschung oft als keltischer Fürstensitz angesprochen. Weitere Stätten sind bei den Plänen dabei, etwa Hochdorf an der Enz bei Ludwigsburg mit seinem keltischen Fürstengrab. Alle Orte sollen laut Landesregierung in „ein kulturpolitisches Gesamtkonzept“integriert werden.
„Das Keltische stellt in gewisser Weise die erste paneuropäische Kulturgemeinschaft nördlich der Alpen dar“, sagt Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Der gelernte Lehrer gehört zu den großen Antreibern bei der Kelten-Renaissance. Wobei es nicht so ist, dass die entsprechenden Bevölkerungsgruppen und ihre Hinterlassenschaften plötzlich aus dem Nebel der Geschichte auftauchen. Ihr Erbe wurde im deutschen Raum quasi vom Interesse an ihren Nachfolgern überdeckt, den germanischen Stämmen – zumal zu nationalistischen Zeiten.
Anders war dies in Frankreich. Bereits vor 300 Jahren führten dort Gelehrte den Ursprung der Nation auf die Kelten zurück, auf die „Caltae“oder „Galli“, wie sie von den Römern genannt wurden. Diese Sicht der Dinge ist zwar längst als unwissenschaftlich entlarvt. Aber dennoch stammen die weltweit bekanntesten Kelten aus Frankreich: Asterix und Obelix, die Comicfiguren des Zeichners Albert Uderzo.
Durch die Heftserie dürfte durch den mistelschneidenden und zaubertrankbrauenden Druiden Miraculix die kultische sowie geistige Elite der Kelten bekannt geworden sein. Jedenfalls haben seit Längerem esoterische Kreise die Druiden als vermeintliche Wundermänner für sich entdeckt. Selbst von der Heuneburg berichten Museumsmitarbeiter, dass von Zeit zu Zeit Grüppchen für seltsame Rituale auftauchen würden. Die historischen Kelten können sich logischerweise nicht dagegen wehren. Es existieren von ihnen noch nicht einmal eigene schriftliche Überlieferungen, die Dinge gerade rücken könnten. Andererseits waren die Kelten technisch, künstlerisch und sozial entwickelt – bis ihre Zivilisation einfach unterging. All diese Umstände haben ihnen bis vor einigen Jahren den Titel eines „rätselhaften Volkes“eingebracht.
Die Forschung hat sich jüngst jedoch entscheidend weiterentwickelt – zumal fächerübergreifend vorangeschritten wird. Die einen machen Ausgrabungen. Pflanzenkundler untersuchen Uralt-Pollen, um antike Bepflanzung zu bestimmen. Physiker stellen anhand von Isotopen in Materialien deren Herkunft fest – wenn etwa ein ausgegrabenes Bronzeschwert mit Zinn aus den Gruben des Erzgebirges oder den Bergen von Cornwall gemacht wurde. Woran Forscher wiederum Fernhandelsbeziehungen erkennen.
Gerade am Beispiel der Heuneburg lässt sich der Wissensfortschritt zeigen. Nach der Jahrtausendwende 2000 war ihre Untersuchung nach einer längeren Pause wieder aufgenommen worden. „Diese Ausgrabungen haben unser Bild der Heuneburg und der frühkeltischen Zeit radikal verändert und zu zahlreichen Neuentdeckungen geführt“, berichtet Professor Dirk Krausse vom Landesamt für Denkmalpflege in einer Mitteilung.
Der Landesarchäologe gilt als führender Keltenspezialist im Südwesten. Nach seiner Ansicht ist einer der wissenschaftlichen Durchbrüche die Erkenntnis gewesen, dass die Heuneburg wesentlich größer war als gedacht: nicht nur eine kleine, befestigte Anlage auf dem beeindruckenden oberen Plateau, wo seit den 1990er-Jahren auch eine Mauerrekonstruktion und nachempfundene Keltenhäuser stehen, sondern ein komplexes, weitaus umfangreicheres Gemeinwesen.
Da ist die wallgesicherte Unterstadt. Bei ihr wurden 2005 die von Archäologen als Sensation empfundenen Fundamente eines wohl mächtigen Steintors entdeckt. Hinzu kommt noch eine Außensiedlung bis hin zu einigen gut erkennbaren Grabhügeln. Insgesamt habe der besiedelte Raum zirka 100 Hektar umfasst. „Er hatte schätzungsweise 5000 Einwohner“, meint Krausse. Seinerzeit eine Metropole – zumindest abseits zeitgleicher orientalischer Reiche mit Städten wie Babylon.
Herausgestellt hat sich zudem, dass die Heuneburg nicht einfach eine Insel in einer Art mitteleuropäischem Urwald war. Offenbar diente sie als Zentrum einer ganzen Region an der oberen Donau. Kultzentren und Gehöfte wurden festgestellt. Offenbar gehörte auch der in Sichtweite der Heuneburg gelegene heutige Wallfahrerberg Bussen zur keltischen Kulturlandschaft.
Wobei Krausse darauf hinweist, es habe auch anderswo neue Erkenntnisse gegeben. Er nennt Neuenbürg im Nordschwarzwald. Dort wurden die bisher ältesten Nachweise für Eisenverhüttung nördlich der Alpen erbracht – zeitlich etwa parallel zur Blütezeit der Heuneburg vor zweieinhalb Jahrtausenden. Der Ipf bei Bopfingen florierte übrigens ebenso zur selben Zeit. Dortige Ausgrabungen haben laut Krausse gezeigt, dass „nicht nur die Heuneburg, sondern auch andere Fürstensitze intensive Kontakte nach Italien und in andere Regionen pflegten“.
Zentrales Leuchtturmprojekt in der Keltenkonzeption des Landes soll jedoch die Heuneburg werden. Gleich mehrere Gründe sprechen dafür: ein guter Forschungsstand, selbst wenn noch längst nicht alles ausgegraben ist, eine von der Archäologie gelobte Qualität bisheriger Funde, zuletzt das erhaltene Grab einer Keltenfürstin. Hinzu kommt eine fehlende Überbauung nach dem Ende der Stadt im fünften Jahrhundert vor Christi Geburt. Ein Brand zerstörte sie. Das Gelände fiel in einen Dornröschenschlaf, bis im Jahr 1950 die ersten Ausgräber auftauchten.
Weil Archäologie alleine aber nicht mehr Besucher anzieht, ist für die nächsten Jahre der Bau einer keltischen Erlebniswelt geplant. „Hierzu sind gegenwärtig intensive Überlegungen im Gange“, meint Michael Hörmann, einer der beiden Geschäftsführer der Staatlichen Schlösser und Gärten und damit neuer Chef der Heuneburg. Virtuelle Realität zum früheren Aussehen der Anlage ist geplant. Ebenso werde über keltische Rollenspiele durch experimentelle Archäologie, einen Abenteuerspielplatz, Gastronomie und Übernachtungsmöglichkeiten beraten, verrät Hörmann.
Erwartet wird offenbar Trubel. Dies ist ja durchaus im Sinne einer Wiederentdeckung der Kelten. Für den Moment hat es aber auch Charme, allein bei der Heuneburg zu stehen. Also nochmals die Augen schließen und sich von der Geschichte forttreiben lassen – hin zum quirligen Leben in längst verschwundenen Gassen und zur einst mit ihren weißen Mauern so eindrucksvoll daherkommenden Oberstadt.