Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Maschinengott ist blind und stumm
RAVENSBURG (sz) - In diesem Falle raten wir ganz klar zum Hamstern, denn Bücher sind Lebensmittel. Sie trösten, informieren, halten hellwach, machen Mut und lassen uns träumen. Die „Schwäbische Zeitung“und Ravensburger Buchhändler stellen deshalb für die Coronakrise und die Zeit danach an dieser Stelle Buchtipps vor.
Konstantin Klaiber (Ravensbuch) empfiehlt: „New Dark Age“von James Bridle:
Das 21. Jahrhundert, die Zukunft. Der
Mensch, aufgeklärt und modern,
Herr der Lage und seiner Schöpfungen, macht sich daran, die letzten
Grenzen des Verständnisses zu sprengen und ein neues Zeitalter der Aufklärung einzuläuten.
Von all diesen Vorstellungen musste ich mich nach der Lektüre von „New Dark Age: Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft“dauerhaft verabschieden. Seit langer Zeit hat mich kein Buch mehr derart beeindruckt. James Bridle, Künstler, Autor und Computerwissenschaftler, hat mit diesem wuchtigen Werk Maßstäbe gesetzt.
Es handelt sich hier keineswegs um eine Pauschalverdammung moderner Technologie à la Manfred Spitzer, im Gegenteil. Bridle zeigt einleuchtend und nah, was unsere Technologie, vor allem im Bereich der künstlichen Intelligenz, kann und was nicht. Und genau bei Letzterem liegt das Problem: Inzwischen formen die Maschinen und ihr teils eklatantes Unvermögen in geradezu allumfassendem Ausmaß nicht nur unsere Gesellschaft, sondern auch unser Denken. Unsere Welt wird beherrscht von Algorithmen, die weder wir noch deren Schöpfer wirklich verstehen, und die Algorithmen wiederum haben keinerlei Verständnis von der Welt, die sie gestalten.
Beispiele gibt es zuhauf. Seien es die „Flashcrashes“an der Börse, bei denen Maschinentrader innerhalb von Nanosekunden Milliarden an Börsenwerten vernichten und dann wieder aufbauen, Perzeptionsalgorithmen, die lernen sollten, Panzer im Gebüsch zu erkennen und doch nur lernten, das Wetter auf den Testfotos zu unterscheiden, bis hin zu Navigationsgeräten, die ihre Benutzer schnurstracks in den nächsten See führen.
Nebenbei gibt es ein schönes Kapitel über die enorme Fragilität unserer modernen Gesellschaft, abhängig von langen Lieferketten, Vorhersehbarkeit der Ereignisse und stabilen Umweltbedingungen. Gerade angesichts der Coronakrise ein echter Augenöffner. Anstatt in einem Zeitalter der Aufklärung leben wir in einem Zeitalter der Finsternis, in dem kein Mensch mehr die Welt verstehen kann. Der Maschinengott, den wir geschaffen haben, ist blind, dumm und stumm.