Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Gymnasiasten fordern Absage der Abiturprüfungen
Weingartener Schüler argumentieren umfangreich und differenziert – Großer Frust, weil die Politik nicht reagiert
WEINGARTEN - Die große Mehrheit der Schüler des Gymnasiums Weingarten fordert die Absage der diesjährigen Abiturprüfungen. Nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema und dem Abwägen von Pro und Contra haben Priska Zimmermann und Julian Zedler stellvertretend mehrere Videos auf Youtube veröffentlicht, mit denen sie ihrer Forderung Nachdruck verleihen wollen. Dabei geht es den beiden 18Jährigen um die hohe Ansteckungsgefahr, Chancengleichheit und den enormen Druck, wie sie im Podcast „Unser Leben und Corona“verdeutlichen.
„Ich hoffe, dass man uns hört und mit unserem Anliegen ernst nimmt“, sagt Priska Zimmermann. „Wir fühlen uns als junge Generation im Stich gelassen.“Das Abitur sei wegweisend für die weitere Zukunft jedes einzelnen Schülers. Da es beim Festhalten an den Prüfungen doch einige Nachteile gäbe, könne sich das negativ auf das weitere Leben auswirken. Zwar sei ein Großteil der Lehrer sehr bemüht. Chancengleichheit wie in anderen Jahren gäbe es aktuell aber nicht.
Daher ärgern sich die Abiturienten besonders, dass die Politik nicht auf die Forderungen reagiere und sich inhaltlich nicht auf die Schüler einlassen, die sich einen Dialog wünschen würden. „Mir ist es wichtig, dass meine Sorgen, Ängste und Argumente mit in einen für mich so wichtigen Entscheidungsprozess einbezogen werden. Und dass man das nicht über meinen Kopf hinweg entscheidet“, sagt Zedler. „Wir sind die, die in den Prüfungen sitzen müssen. Die Politiker sind nicht die, die in den Prüfungen sitzen müssen.“
Dass die beiden mit ihrer Meinung nicht alleine sind, wird anhand von rund 150 000 Unterschriften einer Online-Petition deutlich, die sich für das Durchschnittsabitur ausspricht. Darin sind sich auch die Weingartener Abiturienten weitestgehend einig. Zwar gäbe es einige Gegenstimmen, doch die große Mehrheit der Weingartener Abiturierenten sei für die Absage der Prüfungen und für das sogenannte Durchschnittsabitur. Dabei wird der Durchschnitt der vier Halbjahre berechnet und damit ein Endzeugnis ohne zusätzliche Abiturprüfungen erstellt. „Ich glaube, dass ein Durchschnittsabitur für die breite Masse am gerechtesten wäre“, sagt Zedler.
Daher hat er mit Zimmermann und einer weiteren Freundin eine Vielzahl an Argumenten zusammengestellt, die sie in ihren Videos ausführlich erläutern. Darin sehen sie bei möglichen Prüfungen beispielsweise – gerade mit Blick auf den Schulweg mit dem öffentlichen Nahverkehr – eine ungleich höhere Ansteckungsgefahr. Auch die hygienischen Vorgaben könnten nicht in allen Schulen eingehalten werden, da die sanitären Anlagen oftmals veraltet seien und es nicht einmal in jedem Klassenzimmer warmes Wasser gäbe.
Noch viel problematischer sehen die Abiturienten die wochenlange Vorbereitung auf die Prüfungen zu Hause. So würden das Umfeld und die Arbeitsatmosphäre fehlen. Auch seien die Möglichkeiten von Schüler zu Schüler aufgrund der jeweiligen familiären Situation unterschiedlich. Gerade sozial schwächere Schüler würden hier benachteiligt, sind sich die beiden einig. Hinzu kommt der Faktor Ungewissheit. „Ich finde es persönlich unglaublich schwer, mich von zu Hause aus zu motivieren. Dadurch, dass alles ein bisschen in der Schwebe hängt, kommt bei mir die Frage auf: Wofür mache ich das überhaupt?“, sagt Zimmermann.
Und auch Zedler fällt es nicht leicht, die nötige Motivation aufzubringen. Dabei besonders bitter: „Der Gedanke, dass alles rund um das Abi ausfällt. Wir haben keinen Abiball mit der offiziellen Zeugnisübergabe, wir haben keine Abiparty, keine Abihütte, keine Mottowoche“, sagt er. Ein ganzes Schulleben habe man sich darauf gefreut und immer zu den Abiturienten aufgeschaut. Dass dieses Gefühl der Freiheit nun nicht gefeiert werden könne, sei sehr schade.
Darüber hinaus seien die eingeschränkten Freiheitsrechte, die massiven Einschnitte in den Alltag sowie der Umgang mit dem Tod erhebliche mentale Belastungen. „So etwas mitzuerleben verunsichert, ja verängstigt manche Menschen. Und das wirkt sich, beim einen mehr, beim anderen weniger, negativ auf die Psyche aus“, sagt Zedler, der in diesem Zusammenhang auch auf den hohen Druck verweist.
Dabei betonen die beiden das Bemühen von einem Großteil der Lehrer, die teilweise rund um die Uhr für ihre Schüler ansprechbar sind. „Die haben sich wirklich sehr ins Zeug gelegt, dass ein möglichst guter Unterrichtsersatz entsteht“, sagt Zimmermann.
Allerdings funktioniere das nicht immer ganz optimal und sei auch immer stark von den jeweiligen Lehrern abhängig. „Ich weiß von anderen Kursen, dass sich die Lehrer nicht wirklich gemeldet haben oder dass alles noch in der Schwebe hängt und sich die Schüler komplett selbst vorbereiten müssen“, sagt Zimmermann.
Sie selbst ist derweil froh, dass sie sehr engagierte Lehrer hat und diese ihr digitalen Unterricht ermöglichen. Dabei schaltet sich der Lehrer mit seinen Schülern per Videokonferenz zusammen, verteilt Arbeitsaufträge und geht diese dann im Anschluss zusammen durch. „Das ähnelt dem Unterricht. Bloß eben digital“, sagt die 18-Jährige.
Dennoch glauben beide, dass die Politik gerade eine große Chance vergibt, Vertrauen bei ihren jungen und künftigen Wählern zu gewinnen. Im Gegenteil. „Es wird zwar immer versichert, dass wir keine Nachteile aus der momentanen Situation haben. Das wird sehr oft betont. Aber faktisch sind diese Nachteile einfach schon da“, sagt Zedler, bei dem schon eine gewisse Politikverdrossenheit einsetzt.
Die ganze Folge vom kostenlosen Podcast es online unter www.schwäbische.de/ unserlebenundcorona gibt