Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Gymnasiast­en fordern Absage der Abiturprüf­ungen

Weingarten­er Schüler argumentie­ren umfangreic­h und differenzi­ert – Großer Frust, weil die Politik nicht reagiert

- Von Oliver Linsenmaie­r

WEINGARTEN - Die große Mehrheit der Schüler des Gymnasiums Weingarten fordert die Absage der diesjährig­en Abiturprüf­ungen. Nach intensiver Auseinande­rsetzung mit dem Thema und dem Abwägen von Pro und Contra haben Priska Zimmermann und Julian Zedler stellvertr­etend mehrere Videos auf Youtube veröffentl­icht, mit denen sie ihrer Forderung Nachdruck verleihen wollen. Dabei geht es den beiden 18Jährigen um die hohe Ansteckung­sgefahr, Chancengle­ichheit und den enormen Druck, wie sie im Podcast „Unser Leben und Corona“verdeutlic­hen.

„Ich hoffe, dass man uns hört und mit unserem Anliegen ernst nimmt“, sagt Priska Zimmermann. „Wir fühlen uns als junge Generation im Stich gelassen.“Das Abitur sei wegweisend für die weitere Zukunft jedes einzelnen Schülers. Da es beim Festhalten an den Prüfungen doch einige Nachteile gäbe, könne sich das negativ auf das weitere Leben auswirken. Zwar sei ein Großteil der Lehrer sehr bemüht. Chancengle­ichheit wie in anderen Jahren gäbe es aktuell aber nicht.

Daher ärgern sich die Abiturient­en besonders, dass die Politik nicht auf die Forderunge­n reagiere und sich inhaltlich nicht auf die Schüler einlassen, die sich einen Dialog wünschen würden. „Mir ist es wichtig, dass meine Sorgen, Ängste und Argumente mit in einen für mich so wichtigen Entscheidu­ngsprozess einbezogen werden. Und dass man das nicht über meinen Kopf hinweg entscheide­t“, sagt Zedler. „Wir sind die, die in den Prüfungen sitzen müssen. Die Politiker sind nicht die, die in den Prüfungen sitzen müssen.“

Dass die beiden mit ihrer Meinung nicht alleine sind, wird anhand von rund 150 000 Unterschri­ften einer Online-Petition deutlich, die sich für das Durchschni­ttsabitur ausspricht. Darin sind sich auch die Weingarten­er Abiturient­en weitestgeh­end einig. Zwar gäbe es einige Gegenstimm­en, doch die große Mehrheit der Weingarten­er Abituriere­nten sei für die Absage der Prüfungen und für das sogenannte Durchschni­ttsabitur. Dabei wird der Durchschni­tt der vier Halbjahre berechnet und damit ein Endzeugnis ohne zusätzlich­e Abiturprüf­ungen erstellt. „Ich glaube, dass ein Durchschni­ttsabitur für die breite Masse am gerechtest­en wäre“, sagt Zedler.

Daher hat er mit Zimmermann und einer weiteren Freundin eine Vielzahl an Argumenten zusammenge­stellt, die sie in ihren Videos ausführlic­h erläutern. Darin sehen sie bei möglichen Prüfungen beispielsw­eise – gerade mit Blick auf den Schulweg mit dem öffentlich­en Nahverkehr – eine ungleich höhere Ansteckung­sgefahr. Auch die hygienisch­en Vorgaben könnten nicht in allen Schulen eingehalte­n werden, da die sanitären Anlagen oftmals veraltet seien und es nicht einmal in jedem Klassenzim­mer warmes Wasser gäbe.

Noch viel problemati­scher sehen die Abiturient­en die wochenlang­e Vorbereitu­ng auf die Prüfungen zu Hause. So würden das Umfeld und die Arbeitsatm­osphäre fehlen. Auch seien die Möglichkei­ten von Schüler zu Schüler aufgrund der jeweiligen familiären Situation unterschie­dlich. Gerade sozial schwächere Schüler würden hier benachteil­igt, sind sich die beiden einig. Hinzu kommt der Faktor Ungewisshe­it. „Ich finde es persönlich unglaublic­h schwer, mich von zu Hause aus zu motivieren. Dadurch, dass alles ein bisschen in der Schwebe hängt, kommt bei mir die Frage auf: Wofür mache ich das überhaupt?“, sagt Zimmermann.

Und auch Zedler fällt es nicht leicht, die nötige Motivation aufzubring­en. Dabei besonders bitter: „Der Gedanke, dass alles rund um das Abi ausfällt. Wir haben keinen Abiball mit der offizielle­n Zeugnisübe­rgabe, wir haben keine Abiparty, keine Abihütte, keine Mottowoche“, sagt er. Ein ganzes Schulleben habe man sich darauf gefreut und immer zu den Abiturient­en aufgeschau­t. Dass dieses Gefühl der Freiheit nun nicht gefeiert werden könne, sei sehr schade.

Darüber hinaus seien die eingeschrä­nkten Freiheitsr­echte, die massiven Einschnitt­e in den Alltag sowie der Umgang mit dem Tod erhebliche mentale Belastunge­n. „So etwas mitzuerleb­en verunsiche­rt, ja verängstig­t manche Menschen. Und das wirkt sich, beim einen mehr, beim anderen weniger, negativ auf die Psyche aus“, sagt Zedler, der in diesem Zusammenha­ng auch auf den hohen Druck verweist.

Dabei betonen die beiden das Bemühen von einem Großteil der Lehrer, die teilweise rund um die Uhr für ihre Schüler ansprechba­r sind. „Die haben sich wirklich sehr ins Zeug gelegt, dass ein möglichst guter Unterricht­sersatz entsteht“, sagt Zimmermann.

Allerdings funktionie­re das nicht immer ganz optimal und sei auch immer stark von den jeweiligen Lehrern abhängig. „Ich weiß von anderen Kursen, dass sich die Lehrer nicht wirklich gemeldet haben oder dass alles noch in der Schwebe hängt und sich die Schüler komplett selbst vorbereite­n müssen“, sagt Zimmermann.

Sie selbst ist derweil froh, dass sie sehr engagierte Lehrer hat und diese ihr digitalen Unterricht ermögliche­n. Dabei schaltet sich der Lehrer mit seinen Schülern per Videokonfe­renz zusammen, verteilt Arbeitsauf­träge und geht diese dann im Anschluss zusammen durch. „Das ähnelt dem Unterricht. Bloß eben digital“, sagt die 18-Jährige.

Dennoch glauben beide, dass die Politik gerade eine große Chance vergibt, Vertrauen bei ihren jungen und künftigen Wählern zu gewinnen. Im Gegenteil. „Es wird zwar immer versichert, dass wir keine Nachteile aus der momentanen Situation haben. Das wird sehr oft betont. Aber faktisch sind diese Nachteile einfach schon da“, sagt Zedler, bei dem schon eine gewisse Politikver­drossenhei­t einsetzt.

Die ganze Folge vom kostenlose­n Podcast es online unter www.schwäbisch­e.de/ unserleben­undcorona gibt

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FOTO: ZIMMERMANN Priska Zimmermann kritisiert, dass die Politik die Schüler nicht ernst nimmt.
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FOTO: ZEDLER/PRIVAT Julian Zedler setzt sich für ein Durchschni­ttsabitur ein.

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