Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Alles auf Anfang
Die Corona-Zeit hat bereits schauerliche Wortschöpfungen hervorgebracht, etwa die Basisreproduktionszahl oder die Öffnungsdiskussionsorgien. Diese Begriffe sind in unseren Wortschatz eingeflossen, bereichernd wirken sie aber nicht. Zu den aktuellen Unworten zählt auch der sogenannte Hochrisikopatient oder die Hochrisikogruppe, hinter diesen kühlen Termini stehen jene Menschen, die bei einer Virusinfektion um ihr Leben fürchten müssen. Zu ihnen zählen auch Steffi Rist und ihr Mann Berthold. „Ich leide unter Asthma und hatte eine Lungenembolie, die ich gerade so überlebt habe“, berichtet die 53-Jährige aus Bad Waldsee. Ihr Mann wiederum wurde mehrfach wegen eines gutartigen Tumors im Kopf operiert. So weit, so belastend. Nun aber soll die 16-jährige Tochter Elisabeth ab Montag wieder in die Achtalschule nach Baienfurt gehen, um sich auf ihre Realschulprüfung vorzubereiten – und steckt sich in der Schule womöglich mit dem Virus an? Mit fatalen Folgen für ihre Eltern? „Da kann sie nicht hingehen“, bedauert Rist, die für ihre Tochter – und andere in ähnlichen Lagen – durch den fehlenden Unterricht eine Chancenungleichheit sieht. „Die Abschlussprüfungen in BadenWürttemberg müssen abgesagt werden“, fordert daher die Mutter.
Die Corona-Pandemie hat das Bildungswesen kalt erwischt und Schüler, Lehrer, Eltern und Politiker vor nie da gewesene Herausforderungen gestellt. Zudem treten jetzt Mängel im Schulsystem zutage, die noch lange nachwirken werden. Ob unter diesen Bedingungen die Chancengleichheit bei Stoffvermittlung und Prüfung gegeben ist, bleibt tatsächlich zweifelhaft, aus verschiedenen Gründen. Wobei für die Abschlussklassen am meisten auf dem Spiel steht.
„Wie viele Schüler und Schülerinnen finden zu Hause besondere Situationen vor, in denen ein normales Lernen gar nicht möglich ist?“, fragt Steffi Rist. Nicht jedes Kind habe einen eigenen Raum, wo es ungestört lernen und arbeiten könne. Und plötzlich sei die ganz Familie, womöglich auf engstem Raum, dauerhaft daheim. Verbunden mit einem hohen Stresslevel, wenn Belastungen wie Kurzarbeit oder sogar Arbeitslosigkeit im Raum stünden. Oder Sorgen bestehen vor einer Erkrankung bei Familien mit gefährdeten Personen, wie bei ihr selbst. „Es gibt keine regulären Bedingungen“, bekräftigt Rist und erinnert Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) an deren Worte, „kein Schüler darf einen Nachteil aus der aktuellen Situation haben“. „Doch genau das passiert gerade“, sagt Rist.
Das bemängelt auch Raphael Fröhlich, Schülersprecher im Verein für Gemeinschaftsschulen BW. „Zu diesem Zeitpunkt Prüfungen zu schreiben, ist Irrsinn“, sagt der 17-Jährige aus Köngen (Landkreis Esslingen). Die lange Zeit im häuslichen Umfeld ohne ausreichend soziale Kontakte müsse nachgearbeitet, der Leistungsstand überprüft und die Sorgen der Schüler in Ausnahmesituationen ernst genommen werden. Welche Sorgen das sein könnten, weiß David Jung aus der 12. Klasse der Constantin-VanottiSchule in Überlingen am Bodensee, der sagt, dass nicht jedes Elternteil seinem Kind erklären könne, „wie das Volumen eines in bestimmter Weise definierten Graphen, der um die x-Achse rotiert“, berechnet werde. Wohl kaum.
Dafür artikulieren immer mehr Schüler ihren Unmut, schicken Rügen und Proteste an das Ministerium, die Aktion „Abschluss umdenken“plant für Sonntag eine Demonstration in Stuttgart und denkt an eine Klagewelle nach den Prüfungen im Sommer. Die Mitglieder fordern die Möglichkeit eines Durchschnittsabiturs auf Grundlage von Klausurnoten. Ob sich die Politik noch umstimmen lässt, gilt aber als eher unwahrscheinlich, zumal es unter den Schülern keine eindeutige Stimmungslage gibt. So wird Timo Schell vom Welfengymnasium in Ravensburg wohl nicht auf die Straße gehen und sich auch keinen Anwalt nehmen, er stellt sich der am 18. Mai beginnenden Abiturprüfung. „Viele wollen so ihre Noten verbessern“, sagt der 18-Jährige, der für Deutsch, Mathe, Bio, Englisch und Kunst büffelt. „Sture Lernfächer wie Bio sind nicht meins“, erklärt er. Und schon gar nicht in der aktuellen Ausnahmesituation. „Zwischendurch hat die Arbeitsmoral etwas gelitten“, räumt er ein. Die Lehrer hätten zwar fleißig Aufgaben geschickt, manche sogar zu viele, doch der Kontakt lief hauptsächlich über E-Mail. „Keiner hat es geschafft, Online-Unterricht zu geben.“Bedauerlicherweise. „Klar, von uns wird erwartet, selbstständig zu arbeiten“, sagt Schell. „Trotzdem hätte ich mir etwas mehr Unterstützung gewünscht.“
Was der Schüler zurückhaltend formuliert, bringt Carsten Rees, Vorsitzender des Landeselternbeirats, in Rage. „Nun rächen sich die Versäumnisse der letzten zehn Jahre“, sagt Rees der „Schwäbischen
Carsten Rees, Vorsitzender des Landeselternbeirats
Zeitung“, er spricht von einem „völligen Offenbarungseid des Kultusministeriums“, das eine alte App als Fortschritt verkaufe. Für deren Anschaffung auch noch die Eltern aufkommen müssten, genauso wie für Ausdrucke, Tintenpatronen, für Internet, Handy, Laptop und mehr. „Die Eltern sollen zahlen, zahlen, zahlen, das ist auf kaltem Weg die Einführung eines digitalen Schulgeldes.“Außerdem informiert laut Rees das Ministerium Eltern und Schüler nur unzureichend, fragt nicht nach, was gebraucht werde. „Und manche Lehrer laden drei Kilo Aufgaben bei den Schülern ab, das war’s dann.“Wobei der hochrangige Elternvertreter um die vielen Lehrer weiß, die in der Krise über sich hinauswüchsen, genauso wie es Schulen gebe, die einen hervorragenden Job machten. Andere aber eben nicht.
„Das ist das badenwürttembergische Bildungsroulette“, sagt Rees süffisant.
Fällt die Kugel, um im Bild zu bleiben, auf das Ravensburger Spohn-Gymnasium, bleibt manche Schwierigkeit erspart. Um Netzwerk, Internet und digitales Lernen kümmern sich dort gleich vier Fachkräfte, darunter Philipp Schaubruch, Sport- und Deutschlehrer. „Am Anfang hatten wir wie alle Schulen mit Problemen zu kämpfen, doch jetzt läuft es ganz gut.“Es gibt Video-Tutorials für Kollegen, Online-Unterricht für Schüler und die Lernplattform Moodle wird ausgiebig genutzt. Digitale Mängel sieht der 41-Jährige trotzdem – und das nicht seit gestern. Einmal habe es alleine zwei Jahre gedauert, bis die E-BookLizenz für ein Schulbuch freigegeben wurde. „Und so ist es in ganz vielen Bereichen.“Die Fachkräfte, beklagt er, müssen zeitraubende Multimediapläne schreiben, die beim Schulträger liegen bleiben, weil für deren Umsetzung das Geld genauso fehlt wie für eine WLANOptimierung an der Schule. Darüber hinaus gebe es Schüler, „die sind drei, vier Kinder zu Hause, haben aber nur einen Laptop, den alle gleichzeitig nutzen wollen“, sagt Schaubruch, der auch Kompetenzlücken auf der Lehrerseite sieht: „Cirka 20 Prozent tun sich schwer mit der digitalen Technik.“
Doch egal ob in der digitalen oder in der analogen Welt, die Lehrer stehen in diesen Tagen unter Druck. Ab Montag sowieso, wenn neben dem Fernunterricht auch der Präsenzunterricht wieder anläuft und bald die Prüfungen beginnen. „Die Lehrer meiner Kinder sind wirklich sehr engagiert“, sagt Heike Falk-Kohler aus Ravensburg, die als Vorstand in der Beratungsstelle Brennessel e. V. arbeitet. Das Lob ist der 52-Jährigen wichtig, weil sie um die Härte der Aufgabe weiß. Sie kennt aber auch die Nöte ihrer Kinder. Sohn Carlo (16) geht auf das Welfengymnasium und Tochter Emilia besucht die vierte Klasse der Grundschule. „Seit dem Ende der Osterferien lässt die Motivation nach“, stellt die Mutter fest. „Nun werden die Defizite der Situation intensiver erlebt.“Die Kleine vermisst ihre Mitschüler, der Große seine Freiheit. „Beide würden gerne wieder in die Schule gehen“, sagt Falk-Kohler, „aber sie dürfen noch nicht.“
Diese Leerstelle nimmt auch Michaela Brauchle wahr, ihre beiden Kinder sind zehn und zwölf Jahre alt. „Ihnen fehlt der soziale Kontakt und die Zuwendung durch die Lehrer sehr“, sagt die 46-jährige Softwareentwicklerin aus Ravensburg. „Ich frage mich auch“, so Brauchle weiter, „was macht das mit Kindern, wenn sie so lange von ihren Klassenkameraden getrennt sind?“Sie selber spürt die Belastungen der schullosen Zeit schon längst, einerseits durch ihre anspruchsvolle Arbeit im Homeoffice und gleichzeitig durch die Betreuung ihrer Kinder; im Haushalt, in schulischen Dingen und nicht zuletzt als Auffangbecken für ihre Sehnsüchte und Gefühle. Und all das ohne Unterstützung von außen.
Die staatlich verordneten Maßnahmen gegen das Coronavirus will Michaela Brauchle nicht in Abrede stellen, „vom Bildungsministerium hätte ich mir aber schneller Konzepte gewünscht“. Es sei wahnsinnig schwer, bemängelt die Mutter, dass von den Familien erwartet werde, dass sie die teils enormen Herausforderungen hinbekommen – und das über eine so lange Zeit hinweg. „Die Politik kümmert sich jetzt ganz stark um die Wirtschaft“, sagt die 46-Jährige. „Und vernachlässigt dabei die Familien und ihre Kinder.“
Bei diesen Worten werden womöglich nicht wenige Väter und Mütter zustimmend nicken und ihre Herzen schwer werden. Glücklich sind wohl nur jene, deren Kinder ab Montag wieder zur Schule können. Wenn auch unter strengen Hygieneund Abstandsregeln. „Das ist schon komisch“, sagt Timo Schell vom Welfengymnasium, der sich trotzdem über den Neustart freut. Etwas merkwürdig war es für den Schüler bereits Mitte März, als er 18 Jahre wurde und seine Volljährigkeit in Berlin gefeiert hat. „Die Bars hatten noch auf. Am nächsten Tag war jedoch alles dicht.“Seither fühlt sich das Leben wie auf einem Laufband an, die Zeit zieht sich, der Prüfungsstress und die Einsamkeit am Schreibtisch zupfen an den Nerven. Vielleicht ist es für ihn und seine Mitstreiter ein kleiner Trost, dass der Jahrgang 2020 ein ganz besonderer sein wird, einer, der unvergessen bleibt. Und für den es auch schon eine Wortschöpfung gibt: die Corona-Abiturienten.
Michaela Brauchle, Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern
„Nun rächen sich die Versäumnisse der letzten zehn Jahre.“
„Die Politik kümmert sich jetzt ganz stark um die Wirtschaft. Und vernachlässigt dabei die Familien und ihre Kinder.“