Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Das Virus schafft eine tiefe Ungleichheit in Europa“
Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen warnt einem Zerfall des europäischen Staatenbundes
BERLIN - Seine Kandidatur für den CDU-Vorsitz liegt gerade auf Eis, aber als Chef des Auswärtigen Ausschusses ist Norbert Röttgen gerade gefragt. Im Interview mit Klaus Wieschemeyer warnt er vor einem coronabedingten Auseinanderbrechen der EU und fordert von China mehr Transparenz ein.
Herr Röttgen, Sie sind nicht nur Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, sondern auch Kandidat für den CDUVorsitz. Wie läuft der Wahlkampf? Wir Kandidaten haben Mitte März vereinbart, diesen auszusetzen. Unsere gemeinsame – und ich glaube richtige – Einschätzung war, dass es mit der Pandemie neue Prioritäten gibt. Diese Frage ist jetzt einfach nicht wichtig.
Sie kritisieren die Corona-Lockerungsdrängler. Was spricht gegen mehr persönliche Freiheiten?
Für mehr Freiheiten sind natürlich alle. Die entscheidende Frage ist doch: Wie erreichen wir das? Diejenigen, die sich bereits jetzt – wie die Kanzlerin richtig sagt – zu forsch für Lockerungen einsetzen, machen nach meiner Meinung einen Fehler.
Während Deutschland die Krise bisher recht gut durchsteht, leiden andere europäische Länder wie Spanien oder Italien stark. Muss die EU helfen?
Das Virus ist einerseits ein großer Gleichmacher, weil es nicht nach Nationalität entscheidet. Andererseits trifft es stärkere und schwächere Länder unterschiedlich hart. Spanien hatte gerade einen anstrengenden Weg aus der Staatsschuldenkrise gefunden. Italien hat eine sehr hohe Staatsverschuldung. Beide sind schon in der Krise nicht in der Lage, wirtschaftlich so konsequent zu agieren wie Deutschland. Und sie werden auch nicht über diese Kraft verfügen, wenn es an den Wiederaufbau geht. Das Virus schafft damit eine neue, tiefe Ungleichheit in Europa. Die müssen wir überbrücken.
Das heißt Geld für Südeuropa.
Es geht um Solidarität. Das ist immer das Bauprinzip Europas gewesen. Und Solidarität heißt, dass Stärkere wie Deutschland die Schwächeren unterstützen. Aus Selbstverständnis, aus historischer Erfahrung und aus klugem Selbstinteresse.
Vor allem am Anfang war von europäischer Solidarität wenig zu spüren. Sprengt Corona die EU? Die Krise ist schon jetzt eine Bestandsprobe für die EU. Dass wir, als es ernst wurde, von Europa wenig gespürt haben, ist sehr problematisch. Ich glaube, endgültig entscheiden wird sich die Zukunft der EU daran, ob wir die wachsenden Ungleichheiten zwischen Nord und Süd solidarisch überwinden. Das bedeutet, vor allem durch eine große Kraftanstrengung des Nordens, also auch Deutschlands.
Und wenn das nicht gelingt? Dann riskieren wir, dass die wirtschaftlichen Ungleichheiten und ihre psychischen Folgen in den Bevölkerungen den Euro und die Union gefährden. Wenn Ungleichheiten wachsen, treibt das die Gemeinschaft am Ende auseinander.
Sind Sie für Corona-Bonds?
Italien und Frankreich haben anfangs den Fehler gemacht, die ObFrage nach Solidarität mit der WieFrage des Instruments zu verwechseln. Sich auf jenes Instrument zu versteifen, bei dem beide Seiten seit Jahren in ihren ideologisch-ökonomischen Schützengräben liegen, ist nicht zielführend. In der Ob-Frage sind sich alle Europäer einig.
Welche Instrumente wären besser?
Ich halte den spanischen Vorschlag eines Wiederaufbaufonds für wegweisend. Bei der Ausgestaltung des Fonds sollte auf Zuschüsse und nicht Kredite gesetzt werden. Nur so kann der Teufelskreis von hoher Verschuldung und immer höheren Refinanzierungskosten der Schulden in diesen Ländern durchbrochen werden. Erst vor wenigen Tagen hat die Ratingagentur Fitch die italienischen Staatsanleihen nochmal herabgestuft. Es kann keine dauerhafte Lösung sein, dass allein die EZB mit ihrem gigantischen Kaufprogramm Italien vor dem Absturz bewahrt.
Wenn Deutschland nach der Krise bei steigender Arbeitslosigkeit hoher Neuverschuldung Geld nach Südeuropa gibt, ist das vor allem ein Konjunkturprogramm für Rechtspopulisten.
Diese Populisten gibt es ja in allen Ländern, und sie arbeiten mit den gleichen Methoden für das jeweilige Gegenteil. Doch eines eint sie: Sie werden Europa nicht retten, und sie werden auch kein Vaterland retten. Sie würden, wenn sie an die Macht kämen, alles in den Abgrund führen. Darum ist der Kurs der Kanzlerin so ermutigend: Die Bürger ernst nehmen, die Lage zu schildern, die Gefahren unter Kontrolle bringen. Das war bislang sehr erfolgreich in der Pandemie. Und ich glaube, dieser Stil wird auch erfolgreich sein, wenn es um die Rettung und Sicherung Europas geht.
Corona gibt Deutschland mehr politisches Gewicht?
Die Pandemie wird Deutschland in Europa und international mehr politische Verantwortung bringen. Das hat sich aber schon vorher abgezeichnet und zeigt, wie die Krise bereits vorher angelegte Trends enorm beschleunigt.
Sehen wir nicht gerade eine Renaissance der Nationalstaaten? Wir erleben gerade, wie enorm wichtig der Staat und seine Handlungsfähigkeit zum Schutz der Bürger sind. Damit habe ich auch keine Schwierigkeiten. Wir erleben aber gleichzeitig, dass es in der globalen Pandemie keine Inseln der Glückseligen gibt. Und dass europäische und internationale Zusammenarbeit unerlässlich ist, um die systemischen Risiken der Globalisierung zu managen. Das ist aber kein Widerspruch, sondern muss in ein gutes Verhältnis gesetzt werden.
Wie wird die Weltordnung nach Corona aussehen? Gibt es die EU dann noch?
Wie die Weltordnung aussehen wird, ist unklar. Aber es lässt sich schon erkennen, dass die Pandemie die Trends, die Krisen und die Auflösungserscheinungen der internationalen Ordnungen massiv beschleunigt. Wir müssen uns auf einen Schub an Nationalismus und Protektionismus einstellen.
Wenn Italien nach Schutzausrüstung ruft und China liefert, aber Europa nicht, könnte man auch denken, die EU ist tot und China der große Gewinner der Krise … Da sind Sie ziemlich nah am chinesischen Propaganda-Narrativ. Die Situation zeigt uns: Wir alle in Europa sollten die Tatsache hinterfragen, dass wir in kritischen Bereichen in Lieferabhängigkeiten geraten sind, die aus Sicherheitsgründen fragwürdig, sogar inakzeptabel sind. Das gilt übrigens nicht nur für scheinbar banale Dinge wie Masken, sondern besonders auch bei komplexen Produkten wie dem 5G-Mobilfunkstandard. Wir sollten darauf achten, uns hier nicht erneut in kritische Abhängigkeiten zu begeben.Was in der Debatte jedoch viel zu kurz kommt, ist, dass Europa mit dem 540-Milliarden-Euro-Paket und einem Wiederaufbaufonds ein Vielfaches der chinesischen Unterstützung leistet. Auch darüber könnten wir mal offensiv öffentlich sprechen, nicht nur über chinesische Maskenlieferungen.
Das hört sich nach Misstrauen gegenüber China an.
Wir sollten bei China realistisch sein. Dazu gehört, mit China zu kooperieren. Dazu gehört aber auch, nach Ende der unmittelbaren Krise die Ursachen von Entstehung und Verbreitung des Virus in den ersten sechs Wochen zu untersuchen.
Das wird dort nicht gerne gehört. China droht Australien deshalb mit Boykott …
Was nicht akzeptabel ist und geschlossenen Widerspruch verlangt. Eine Lehre, die wir aus dieser Krise ziehen müssen, ist, dass die Unterdrückung der Wahrheit in autoritären Staaten von der Weltgemeinschaft nicht als innere Angelegenheit betrachtet werden kann. Die Unterdrückung der Wahrheit in China und die Leugnung bereits vorhandenen Wissens war höchstwahrscheinlich mitursächlich für die globale Ausbreitung des Virus. Deshalb muss die internationale Gemeinschaft auf eine Untersuchung drängen. Ich denke übrigens, dass China sich seiner Taten bewusst ist. Das ist der Grund für die maßlose Werbekampagne des Landes in aller Welt.
Offiziellen Vergleichszahlen zufolge ist China gut durch die Krise gekommen. Sind autokratische Regierungen bei Pandemien besser als liberale Staaten?
Um es sehr diplomatisch zu formulieren: Die Zahlen sind mit großer Vorsicht zu betrachten. Selbst wenn man Wertefragen ausklammert und die angeblichen Vorteile autoritärer Staaten allein unter Gesichtspunkten der Effizienz sieht, ist die Bilanz denkbar schlecht. Das fängt schon bei der Entstehung an: Autokratische Staaten haben ein unfreundliches Verhältnis zur Wahrheit, was den idealen Nährboden für die Ausbreitung des Virus bietet. Ein weiteres Merkmal ist das Fehlen einer inneren Kontrollinstanz, das auch zum Problem wurde. Ebenso wollen wir die teilweise brutalen und menschenverachtenden Methoden zur Bekämpfung des Virus hier auch nicht. Ich kann – auch jenseits von Wertfragen – auf ganzer Linie keinen Vorteil autoritärer Staaten erkennen. Übrigens nicht nur in China, sondern auch in Russland, wo wir keinen Einblick in die Entwicklung des Virus haben.