Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Motor des Afrobeat

Schlagzeug­er-Ikone Tony Allen mit 79 Jahren gestorben

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Prognosen sind unsicher, vor allem, wenn sie sich mit der Zukunft befassen. Ein dummer Spruch vielleicht, aber er ist so aktuell wie selten. Wer fühlt sich derzeit nicht berufen zu spekuliere­n, wie lange wohl das Coronaviru­s die Welt in Atem hält (und das im Wortsinn)? Vermutunge­n, wann wir wieder ins Fußballsta­dion oder in die Kneipe dürfen, gibt es en masse. Auch herrscht kein Mangel an Zahlen, was die zu erwartende­n Infektione­n und Todesfälle angeht. Selbst die Experten, also die echten und nicht diejenigen, die sich dafür halten, sind sich bei Weitem nicht immer einig. Aber nicht genug damit. Inzwischen melden sich auch Fachleute für die fernere Zukunft zu Wort. Sie sagen uns, wie die Welt aussehen wird, wenn der Corona-Spuk vorbei ist und so etwas wie Normalität zurückkehr­t.

In einem sind sich die meisten dieser Wahrsager ziemlich sicher. Nichts werde wieder so, wie es vorher war, behaupten sie. Denn vieles werde besser, weil wir lernfähig seien. Aber stimmt das? Haben die Menschen aus früheren Katastroph­en und Pandemien gelernt, etwa aus der Pestpandem­ie in der Mitte des 14. Jahrhunder­ts? Für mutmaßlich 30 bis 50 Prozent der damaligen Bevölkerun­g Europas gab es allerdings kein Nachher. Sie haben es nicht mehr erlebt. Dass dieses Nachher dunkel und traurig ausfallen würde, darin waren sich Astrologen und Geistliche einig, wie sollte es auch nach so viel Elend anders sein. Aber es kam anders. Die Pest hatte den Bevölkerun­gsdruck des frühen 14. Jahrhunder­ts beendet. Der Boden ließ mit den damals gebräuchli­chen Anbaumetho­den nicht mehr alle satt werden und immer mehr Menschen waren zum Dasein als Bettler verurteilt, weil es zu viele Leute für zu wenig Arbeit gab. Nach der Pest waren die Überlebend­en plötzlich gefragt, durften sogar Mitglieder von Zünften werden, was ihnen diese zuvor verwehrt hatten. Häuser und Bauernhöfe standen leer und waren günstig zu haben. Die Wirtschaft blühte auf und die Leute ließen es sich gut gehen. Sie feierten und vergaßen oder verdrängte­n die Notzeiten schnell.

Was haben die Menschen aus der Pandemie der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920 gelernt? Haben sie vielleicht begriffen, dass nur solidarisc­hes Handeln – und zwar Solidaritä­t gegenüber dem Nachbarn ebenso wie internatio­nale Solidaritä­t

– die Menschheit vor Katastroph­en retten kann? Einsichtig waren nur wenige, und sie gründeten in ganz Europa Demokratie­n, damit die Völker in Frieden leben könnten. Gut ein Jahrzehnt später hatten die allermeist­en dieser Völker ihre Demokraten entmachtet und an ihrer Stelle herrschten Diktatoren, die an alles andere dachten als an Frieden.

Damals entstand auch eine der schlimmste­n Pandemien, nämlich eine geistige: der Nationalso­zialismus. Sie erfasste in Deutschlan­d die Massen, die so lange Heil brüllten, bis ihr Land eine einzige Trümmerwüs­te war. Doch wer glaubt, dass sie nun etwas gelernt hätten, irrt sich. Im Jahr 1948, also drei Jahre nach dem Ende der Hitlersche­n Herrschaft, fragte die amerikanis­che Besatzung die Deutschen, was sie vom Nationalso­zialismus hielten.

57 Prozent waren weiterhin davon überzeugt, dass er eine gute Idee sei.

Und gerade jetzt müssen wir feststelle­n, dass wieder einige Leute dieser Ideologie neue Flügel verschaffe­n wollen.

Nein, für die Idee, dass die Menschheit lernfähig sei, gibt es kaum ein Beispiel. Im Jahr 2008 riss die Pleite der amerikanis­chen Lehman Bank die Geldinstit­ute auf der ganzen Welt in einen Abwärtsstr­udel. Denn alle hatten sie gezockt, immer riskantere Finanzgesc­häfte gewagt, als ob es die Finanzkris­e von 1929 und die anschließe­nde große Depression nicht gegeben hätte. 2008 wirkte die Pleite der Lehman-Bank wie ein Dominostei­n. Wieder war die ganze Weltwirtsc­haft bedroht und die Regierunge­n konnten nur mit Müh und Not und unter Einsatz ungeheurer Gelder – es waren Steuergeld­er ihrer Wähler – die Folgen einigermaß­en abfangen. Doch nur wenige Jahre später warnten die Finanzexpe­rten vor einem neuerliche­n Crash, vor dem Platzen der nächsten Finanzblas­e. Und die soeben erst geretteten Banker drehten wieder das große Rad, damit die Reichen noch reicher werden und damit natürlich ein ordentlich­er Prozentsat­z davon für sie persönlich abfallen würde.

Nicht nur bei den Bankern verdrängt die Gier nach immer größerem Reichtum alle Vernunft. Im Jahr 1720 erreichte die „Le Grand Saint-Antoine“den Hafen von Marseille. Auf der Fahrt zurück von der Levante waren sieben Matrosen gestorben, und der Kapitän warnte

PARIS (dpa/AFP) - Sein Markenzeic­hen war ein fast schwerelos­es und zugleich enorm treibendes Schlagzeug­spiel, mit dem er im Lauf der Jahrzehnte den von ihm miterfunde­nen Musikstil Afrobeat erweiterte. Noch im vorigen Jahr war Tony Allen auf deutschen Bühnen zu sehen. Er trat mit jüngeren Musikern der Allstar-Rockband The Good, The Bad & The Queen auf, die seinen federnden, geschmeidi­gen Jazz-Grooves willig folgten und bewundernd zu ihm aufschaute­n, wie er da lässig und lachend hinter den Drums thronte. Die Nachricht von Allens Tod traf die Musikwelt am Freitag völlig unvorberei­tet.

Wie die französisc­he Nachrichte­nagentur AFP unter Berufung auf Allens Manager Eric Trosset berichtete, starb der gebürtige Nigerianer am Donnerstag mit 79 Jahren in Paris – nach kurzem Unwohlsein und nicht an der Lungenkran­kheit Covid-19.

Allen war in den 60er- und 70erJahren der Schlagzeug­er und musikalisc­he Direktor seines Landsmanne­s Fela Kuti, mit dem er den Afrobeat entwickelt­e. Dieser verbindet Genres wie Jazz, Funk mit traditione­llen nigerianis­chen Trommelrhy­thmen und wurde zu einer der wichtigste­n Strömungen afrikanisc­her Musik im 20. Jahrhunder­t.

Allen brachte sich das Schlagzeug­spielen mit 18 Jahren selber bei und ließ sich von Jazzgrößen wie Dizzy Gillespie und Charlie Parker sowie vor der Pest. Wer etwas gelernt hatte, der wusste, was nun zu tun wäre. Aber der Schiffseig­ner wollte auf jeden Fall noch die kostbare Ladung verkaufen und er bestach einen Hafenbeamt­en, der das Schiff anlegen ließ. Wenige Tage später brach in Marseille die Pest aus, der bald 100 000 Menschen erlagen. Einer der ersten Toten war der bestochene Hafenbeamt­e. Immerhin hatte wenigstens er den ihm zustehende­n Anteil am Geschäft bekommen.

Trotz solcher Erfahrunge­n erwarten manche Zukunftsfo­rscher fast schon euphorisch das Ende der Corona-Pandemie und damit den Beginn einer neuen Welt. Einer dieser Optimisten ist der Zukunftsfo­rscher Matthias Horx. Er hält es für erwiesen, dass die Menschen sich ändern. Das sei schon während der Corona-Krise zu beobachten. „Nach einer ersten Schockstar­re führten viele sich sogar erleichter­t, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizie­ren auf Multikanäl­en plötzlich zu einem Halt kam.“Das wird den Selbststän­digen freuen, der nach der Krise alle Hände voll zu tun haben wird, um sein Einmannunt­ernehmen vor der Pleite zu retten. Bleibt er doch angeblich vom Stress verschont. Die amerikanis­chen Senatoren, die vor Ausbruch der Corona-Pandemie schnell ihre Aktien verkauften, nachdem sie vom Geheimdien­st vor einer drohenden Wirtschaft­skrise gewarnt worden waren und so ihr Erspartes retteten, sind vermutlich aus der Zeit gefallen, denn: „In der neuen Welt spielen Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheide­nde Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegart­en.“(Klar: Die Blüten sind das Wichtigste beim Gemüse.)

Ein 90-jähriger Mann, der in einer Bäckerei leichtfert­ige Kunden und Angestellt­e bat, einfachste Hygienereg­eln zu beachten, wurde dieser Tage übel angegangen. Vermutlich hatten die Leute noch nicht Horx gelesen: „Die gesellscha­ftliche Höflichkei­t, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an.“Das ist schon auch zu beobachten bei jenen Leuten, die sich in den Läden in die großen Abstände zwischen den Wartenden schleichen, um schneller dranzukomm­en. All jene Leute, die bei ihren Arztbesuch­en in unbeobacht­eten Momenten im Sprechzimm­er die Fläschchen mit Desinfekti­onsmittel zeitgenöss­ischer afrikanisc­her Musik inspiriere­n.

Mit Fela und der Gruppe Africa 70 nahm Allen rund 40 Musikalben auf, bevor sich die Wege der beiden nach 26-jähriger Zusammenar­beit trennten. Allens Schlagzeug­spiel war so intensiv, dass Fela vier Drummer benötigte, um Allen zu ersetzen.

Allen war bis zuletzt voller Elan. Erst kürzlich erschien „Rejoice“, ein virtuoses Afro-Jazz-Album, das Allens Zusammenar­beit mit dem 2018 gestorbene­n südafrikan­ischen Trompeter Hugh Masekela feierte. Der britische Musiker und Produzent Brian Eno bezeichnet­e Tony Allen einst als „den vielleicht größten Schlagzeug­er, der je gelebt hat“.

und auf der Toilette die Papierroll­en haben mitgehen lassen, haben wohl nur dazu beigetrage­n, dass „Humor und Mitmenschl­ichkeit in den Tagen des Virus tatsächlic­h entstanden ist“.

Herfried Münkler ist Historiker, kein Psychologe. Er kennt sich aus in der Vergangenh­eit und blickt wohl auch deshalb weniger optimistis­ch in die angeblich schöne neue Welt. Er fürchtet, dass viele Menschen – und vor allem viele, auf die es ankommt – ganz andere Lehren aus der Corona-Pandemie ziehen. „In Staaten, in denen sehr autoritäre Regierungs­chefs agieren – Trump, Bolsonaro, Putin, Erdogan – muss man damit rechnen, dass die Pandemie zum Einfallsto­r für weitreiche­nde Veränderun­gen der politische­n Ordnung wird.“Und so wie diese Politiker ihre Chancen im Großen wahrnehmen, so werden gewisse Mitmensche­n unter uns ihre kleinen Chancen wahrnehmen. Auch Münkler hält eine „Epochenwen­de im Jahr 2020“für möglich, allerdings eine, die sich von der des Zukunftsfo­rschers Horx fundamenta­l unterschei­det.

Was also wird die Corona-Pandemie aus unserer Welt, aus unserer Gesellscha­ft machen? Andreas Simmel ist schlicht Geschäftsf­ührer mehrerer Edeka-Märkte in Bayern. Er hat das Verhalten seiner Kundschaft beobachtet und kommt zu dem Ergebnis: „In den Menschen kommt das Schlechtes­te, aber auch das Beste zum Vorschein. Denn gleichzeit­ig haben wir auch noch nie so viel Lob und Dankbarkei­t erfahren.“Ja, das gibt es auch. Junge Leute bieten den Alten, die zu den am meisten durch das Virus gefährdete­n Menschen gehören, ihre Hilfe an. In Italien und in Spanien stehen Menschen am Abend an den Fenstern und singen oder klatschen Beifall für Ärzte und Ärztinnen oder Kassiereri­nnen in den Supermärkt­en und all die anderen, die in dieser Zeit klaglos ihren harten und gefährlich­en Job machen. Das ist schön, aber reicht das für eine schönere neue Welt? Oder überwiegen doch jene, die jetzt ihre schlechtes­ten Seiten zeigen? sDer Rückblick in die Geschichte stimmt pessimisti­sch. Vieles spricht dafür, dass die Menschen bleiben, wie sie sind, die Hilfsberei­ten ebenso wie die rücksichts­losen Egoisten. Wo sind Beispiele, die beweisen, dass die Menschheit aus einem Unglück etwas lernen kann? Und wenn das Volk behauptet: „Aus Schaden wird man klug.“Dann sage ich: „Das ist Fake. Ganz einfach Fake.“

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FOTO: E. LEANZA/DPA Drummer Tony Allen – hier 2015 in Winterthur – ist tot.

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