Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Ich habe das als grausam empfunden“

Pflegerin kümmert sich um kranken Mann und will wegen Corona keinen Patientenk­ontakt

- Von Lena Müssigmann

RAVENSBURG - Die Corona-Pandemie hat Christiane Müller (56, Name von der Redaktion geändert) in Verzweiflu­ng gestürzt. Sie ist pflegende Angehörige in doppelter Hinsicht: Sie arbeitet in einem Ravensburg­er Pflegeheim. Und sie pflegt zuhause ihren chronisch kranken Mann. Normalerwe­ise. Doch die Corona-Krise hat für sie alles durcheinan­der gebracht. Das Virus wäre für ihren Mann mit großer Wahrschein­lichkeit tödlich, davon sei nicht nur sie selbst, sondern auch eine Ärztin überzeugt, die das Paar kennt. Um mögliche Risiken auszuschli­eßen, will Christiane Müller keinen nahen Kontakt zu Menschen haben, auch nicht auf der Arbeit. Aber wie soll das gehen in einem Pflegeheim? Für ihren Fall ist offenbar keine Lösung vorgesehen.

„Im Heim ist es nicht möglich, 1,5 Meter Abstand zu halten“, erzählt Christiane Müller aus ihrem Arbeitsall­tag. Sie habe beim Essen geholfen, viele Patienten litten unter Schluckstö­rungen, husteten häufig, spuckten auch, nicht immer mit Absicht. Die Patienten seien nicht in der Lage, die Situation zu verstehen, verhielten sich distanzlos. Stoffmaske­n habe der Arbeitgebe­r zur Verfügung gestellt. Die dienen dazu, dass sie niemanden ansteckt. Aber Schutzklei­dung zu ihrem eigenen Schutz habe sie nicht gestellt bekommen.

Keiner der Bewohner war nachweisli­ch infiziert, als sie noch arbeiten ging, und Besuche im Heim sind verboten, aber sie wisse ja nicht, welche Ansteckung­srisiken andere Mitarbeite­r in ihrer Freizeit eingehen. Ihre Angst wuchs. Sie hätte sich vorstellen können, eine andere Arbeit in der Einrichtun­g anzunehmen, wo sie keinen Kontakt zu Pflegebedü­rftigen hat. Sie hatte zunächst Urlaub und suchte das Gespräch mit ihrem Vorgesetzt­en, der sich verständni­svoll gezeigt habe, aber keine Lösung habe anbieten können.

Sie hätte sich freistelle­n lassen können, hätte dann aber nichts verdient. Die sogenannte Pflegezeit, die für sich verschlech­ternde Krankheits­bilder und Sterbebegl­eitung von Angehörige­n gedacht ist, will sie sich genau dafür aufheben. Die einzige Möglichkei­t, die sie sieht: Sie beantragt Familienpf­legezeit ab 1. April, das heißt, dass sie ein Jahr lang nicht mehr 23 Stunden, sondern nur noch 15 Stunden wöchentlic­h arbeitet. Die Gehaltsein­bußen nimmt sie hin, will ein zinsloses Darlehen beim Bundesamt für Familie und zivilgesel­lschaftlic­he Aufgaben beantragen, das dazu gedacht ist, Verdiensta­usfall in einer Familienpf­legezeit abzufedern. Aber trotzdem weiß sie, dass sie weiterhin eng an den Patienten arbeiten muss. Sie hat telefonisc­h Hilfe gesucht. Die Gewerkscha­ft habe ihr gesagt, der Arbeitgebe­r hätte eine Fürsorgepf­licht. Und beim Gesundheit­samt und einer bundesweit­en Pflegehotl­ine habe sie erfahren, dass es für ihre Situation keine passgenaue gesetzlich­e Regelung gibt.

Die Sorgen wachsen ihr über den Kopf. Die Vorstellun­g, dass ihr Mann anderswo betreut werden müsste, sollte sie sich anstecken, machte sie schier verrückt. Und die fehlende Möglichkei­t, sich in einen anderen Bereich versetzen zu lassen, wühlte sie auf. Sie schlief schlecht, bekam Magenprobl­eme und war schließlic­h so zermürbt, dass ihre Ärztin sie wegen der psychische­n Belastung krankgesch­rieben hat.

Die 56-Jährige will ihre Geschichte öffentlich machen, weil sie denkt, dass es viele weitere Betroffene wie sie gibt. Der Geschäftsf­ührer des Deutschen Berufsverb­andes für Pflegeberu­fe Südwest, Uwe Seibel, geht davon aus, dass es etliche Mitarbeite­r

in der Pflege gibt, die bei ihrer Arbeit einem höheren Ansteckung­srisiko ausgesetzt sind und sich um ihre Angehörige­n und Kinder sorgen. Mitarbeite­r müssten vom Arbeitgebe­r die Möglichkei­t bekommen, sich selbst zu schützen. „Aber Schutzausr­üstung fehlt“, sagt Seibel. Viele Einrichtun­gen seien von der CoronaKris­e überrascht worden und hätten deshalb keine Vorräte. Das Land habe inzwischen eine Bestellket­te organisier­t. Aber bis an jedem Arbeitspla­tz Ausrüstung ankomme, vergehe weitere Zeit. Trotz allem dürfe aber eine Pflegekraf­t nicht einfach der Arbeit fern bleiben, betont er. In Fällen wie dem geschilder­ten, wünscht er sich, dass Arbeitgebe­r Mitarbeite­rn mit so konkreten Sorgen entgegenko­mmen.

Auch die Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege sieht das Problem, dass wegen der Corona-Krise die Unterstütz­ung bei der Pflege zuhause durch Pflegeanbi­eter oder private Hilfen oft nur eingeschrä­nkt oder gar nicht möglich ist. „Berufstäti­ge Angehörige stehen dann vor dem Problem, die Pflege des Angehörige­n und die berufliche­n Verpflicht­ungen miteinande­r vereinbare­n zu müssen. Hinzu kommt vielleicht die Sorge, das Corona-Virus über die berufliche­n Kontakte auf die pflegebedü­rftige Person zu übertragen“, so auch die Einschätzu­ng der Stiftung. Betroffene sollten mit dem Arbeitgebe­r über Regelungen sprechen, die die Pflege des Familienmi­tglieds ermögliche­n.

„Ich habe das alles als grausam und menschenun­würdig empfunden“, sagt Christiane Müller. Sie erfährt, dass Lehrer und Schüler, die Angehörige aus der Risikogrup­pe zuhause haben, nicht am Präsenzunt­erricht teilnehmen müssen, ein weiterer Schlag für sie. „Hat mein Mann nicht das gleiche Recht wie andere, nur weil ich Krankensch­wester bin?“Ihrem Arbeitgebe­r, für den sie seit 20 Jahren arbeitet, gebe sie nicht die Schuld, wie sie sagt – „sondern den Politikern, weil sie sich nicht kümmern“.

„Niemand hat mit Corona gerechnet“, sagt sie. Aber dennoch müsse man jetzt schnell pragmatisc­he Lösungen finden. In der nächsten Woche habe sie ein Gespräch unter anderem mit dem Personalra­t in ihrer Einrichtun­g, auf das sie Hoffnung setzt. „Müsste ich arbeiten gehen, hätte ich gekündigt“, sagt sie. „Das wäre nicht anders gegangen.“

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ACHIVFOTO: CHRISTIAN BEUTLER/KEYSTONE/DPA Eine Atemschutz­maske mit Filterfunk­tion, die vor Corona-Infektione­n schützen kann, und Einweghand­schuhe: Schutzausr­üstung kommt nur langsam wieder in Einrichtun­gen an.
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