Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Köstlichkeiten aus der Box
Corona verändert die Art, wie wir uns ernähren – Geschlossene Restaurants gehen mit Baukasten-Menüs neue Wege – Das Motto des Angebots lautet: selber kochen ohne einkaufen zu müssen
Eine Facette der massiven Änderungen unseres derzeitigen Lebens ist die Art, wie wir uns ernähren: Was passiert mit unseren Mahlzeiten, wenn wir zum Beispiel im Homeoffice plötzlich keine Kantinenversorgung mehr haben? Was verspeisen, wenn in der Mittagspause der Imbiss um die Ecke keine Option mehr ist? Was bleibt uns übrig, wenn Restaurants und Wirtschaften zu haben und neben dem Erlebnis der Geselligkeit auch die Spezialitäten aus solchen Häusern schmerzlich fehlen?
Eine lebhaft genutzte Alternative sind derzeit Liefer- und Abholangebote von Restaurants. Das Prinzip ist einfach: Fix und fertig zubereitete Speisen werden heiß in entsprechende Einwegbehälter gepackt. Der Gast holt sie vor Ort ab – oder lässt sich vom Gastronomen beliefern. Das Problem: Nicht jedes Essen verträgt im zubereiteten Zustand Transportwege und Verzögerungen. Während ein Steak mit Pommes schon nach 20 Minuten deutlich leidet, weil zum Beispiel ein gewünschter Garpunkt unter solchen Umständen kaum zu treffen, respektive zu halten ist, und Fritten bereits nach kurzer Zeit erschlaffen, haben Schmorgerichte wie Sauerbraten mit Spätzle deutlich weniger Probleme mit Qualitätseinbußen.
Für Philip Blank vom Hotel Restaurant Rad in Tettnang ist die Frage nach der Qualität genau der Grund, warum er sich gegen fertiges Essen zum Abholen entschieden hat. „Das kommt am Ende doch nicht so auf den Teller, wie ich mir das vorstelle“, sagt der Chef des Traditionsbetriebs, den er in vierter Generation führt. Blank hat auf andere Art aus der Not eine Tugend gemacht: mit Essen aus der Box. „Wir sind bekannt für unseren Spargel. Und weil das Restaurant immer noch zu bleiben muss, haben wir uns überlegt, wie wir unseren Gästen trotzdem zum Genuss verhelfen können.“Und so hat der Küchenchef ein Drei-Gänge-Menü entwickelt, das er in seiner Küche vorbereitet. „Wir verpacken es ansprechend, legen eine Anleitung dazu – und der Kunde holt es ab und bereitet es in seiner Küche fertig zu“, sagt Philip Blank. Kostenpunkt: 30 Euro pro Menü und Person.
In der Praxis erweist sich die Zubereitung des Spargelmenüs aus der Box als Kinderspiel: Spargel im Crêpes mit Schinken im Ofen sanft erhitzen. Spargelsuppe im Topf auf Temperatur bringen. Zweierlei Sößchen ebenso. Das Ergebnis überzeugt kulinarisch wie optisch: Der Spargel zart, aber mit Biss. Die Suppe sämig und spargelintensiv – vom Dessert, einem Cremetörtchen mit in Gin eingelegten Erdbeeren, ganz zu schweigen. „Die Resonanz hat uns selber überrascht“, sagt Blank, der jede Woche das Spargelmenü wechselt – im Augenblick schon an der dritten Ausgabe arbeitet. Genaue Verkaufszahlen nennt er nicht. Aufgrund des Erfolgs kann sich Blank aber vorstellen, dieses Konzept auch nach Corona als Baustein seines Betriebs beizubehalten. Und das jetzt in Krisenzeiten Erlernte auch später zu nutzen. „Um wenigstens ein kleines bisschen etwas Positives aus der Situation zu ziehen.“
Wenige Kilometer weiter in Lindau am Bodensee ist Klaus Winter parallel in seinem für Gegrilltes bekannten Restaurant Strandhaus auf eine ähnliche Idee gekommen. „Barbecue ist unsere Spezialität“, sagt seine Frau Jasmin SchwabeWinter. Eine Menge Gäste hätten sich gemeldet und die behördliche Schließung des Betriebs bedauert. „Menschen, die unser Angebot vermissen“, sagt Klaus Winter. Ähnlich wie Blank in Tettnang haben die Winters nach einer Möglichkeit gesucht, etwas anzubieten, das auch in der Krise funktioniert. Etwas, das als kulinarische Visitenkarte taugt. „Zwiebelrostbraten oder so was haben wir da eher nicht gesehen“, sagt Winter. Dafür Pulled Pork und Pulled Beef: Bei dieser Zubereitungsmethode wird das Fleisch im sogenannten Smoker über mindestens zwölf Stunden bei mäßiger Hitze und in Verbindung mit Rauch gegart, bis es quasi von alleine auseinanderfällt. Gezupft und in Vakuumbeuteln verpackt, bietet es das Restaurant ab zehn Euro pro 200-Gramm-Beutel an. Außerdem Gemüse sowie vorgegrillte Kartoffeln – beides ebenfalls vakuumiert und bereit für Pfanne oder Wasserbad. Das Ergebnis – ähnlich wie bei Blanks Spargel – kommt nach sehr simpler Zubereitung dem, was der Gast im Restaurant auf dem Teller hätte, doch sehr, sehr nahe.
Am Baukastenprinzip, das bei Blank und Winter im Kleinen offenbar gut funktioniert, versuchen sich seit Längerem auch größere Konzerne, wenn auch in abgewandelter Form. Denn Baukasten heißt bei Anbietern wie „Hellofresh“, dass die Zutaten in der Kochbox tatsächlich nicht vorgegart sind, sondern im rohen Zustand noch komplett zubereitet werden wollen. „Hellofresh“mit Stammsitz in Berlin hat sich schon lange vor der Krise auf die Fahne geschrieben, gesundes und abwechslungsreiches Essen zum Selberkochen anzubieten. Die Zubereitungszeit liegt bei etwa 30 Minuten, die Portionen sind genau auf die Personenanzahl abgestimmt, für die bestellt wird, damit möglichst wenig übrig bleibt. Die Anleitungen kommen als Schritt-fürSchritt Rezeptkarten, Prädikat idiotensicher.
Wir verpacken es ansprechend, legen eine Anleitung dazu – und der Kunde holt es ab und bereitet es in seiner Küche fertig zu. Philip Blank vom Restaurant Rad in Tettnang über seine Spargel-Kochbox
Vorkenntnisse nicht nötig. Frisch kochen, ohne sich um den Einkauf kümmern zu müssen. Bis auf ein paar grundsätzliche Dinge wie etwa Zucker, Mehl, Salz, Pfeffer, Essig und Öl ist alles im Baukasten, respektive der Kochbox. Mitbewerber „Marleyspoon“arbeiten nach einem ganz ähnlichen Prinzip.
„Hellofresh“ist in seinem Segment Weltmarktführer – und die Corona-Krise hat der Aktie ordentlich Auftrieb verliehen. Seit Jahresbeginn hat das Wertpapier entgegen des mächtigen Abwärtstrends an den Finanzmärkten 80 Prozent auf zeitweise fast 35 Euro zugelegt. Auf die Frage, wie sich denn die Krise auf das Geschäft auswirkt, teilt „Hellofresh“mit: „Wir nehmen unsere Verantwortung als Unternehmen, welches weiterhin frische Lebensmittel zu unseren Kunden an die Haustür liefert, vor allem in diesen Zeiten, extrem ernst. Wir sehen in der Tat einen Anstieg an Bestellungen, aber sind gut auf diverse Situationen vorbereitet.“Zu signifikanten Verzögerungen bei der Auslieferung sei es bisher nicht gekommen.
„Hellofresh“nimmt für sich ein besonders nachhaltiges Geschäftskonzept in Anspruch und begründet das auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“so: „Bei ,Hellofresh’ können wir Zutaten grammgenau anhand der Nachfrage bereitstellen und gleichzeitig über kurze Transportwege ohne Zwischenstationen bei Großhändlern oder Supermärkten direkt zu unseren Kunden nach Hause liefern. Dadurch reduzieren wir Lebensmittelabfälle auf ein Minimum und verbrauchen durch den Verzicht auf Ladengeschäfte gleichzeitig 71 Prozent weniger CO2 als der durchschnittliche Supermarkt. Ebenso ersetzen wir mit der effizienten Auslieferung unserer Boxen individuelle Fahrten. Wir verpacken grundsätzlich nur das, was verpackt werden muss. Unser Verpackungskonzept ist bereits zu 80 Prozent recycelbar und wir arbeiten ständig daran, unsere Box nachhaltiger zu gestalten.“
Kurze Wege – das können Betriebe wie der von Philip Blank und die Winters auch für sich reklamieren. Kommt der Gast zum Abholen doch in aller Regel aus der näheren Umgebung. Winter packt in Kunststoffbeutel frisch ab, arbeitet sogar mit einem Schockfroster, um die Keimzahl so gering wie möglich zu halten. „Etwas, das wir uns von einem Lebensmittellabor haben bestätigen lassen“, erklärt Winter. Im Kühlschrank ist zum Beispiel sein Pulled Pork dann noch locker zwei Wochen haltbar.
Die genannten Beispiele zeigen: Gastronomen versuchen, aus der jetzigen Situation für die Zukunft zu lernen und aus den besonderen Umständen etwas mitzunehmen. „Andererseits sollten wir uns auch nichts vormachen“, sagt Klaus Winter. Die schönen Ideen – aus der Not geboren – egal ob Essen „to go“oder Speisen im Lieferservice, einerlei ob vorproduziert im Baukastensystem zum Aufwärmen daheim: Sie können den Normalbetrieb nicht einmal annähernd kompensieren oder die immensen Einbußen ausgleichen. Klaus Winter: „Es ist und bleibt ein Tropfen auf dem heißen Stein.“