Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Beschränku­ngen bröckeln weiter

In mehreren Bundesländ­ern werden die Kontaktbes­chränkunge­n massiv gelockert – Was konkret geplant ist

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BERLIN (dpa) - In Niedersach­en sollen Restaurant­s und Biergärten öffnen, in Sachsen-Anhalt dürfen sich Fünfergrup­pen treffen: Ein Überblick, welche Lockerunge­n der Coronaviru­s-Beschränku­ngen in den Bundesländ­ern inzwischen geplant sind – und welche Folgen das hat.

Ist es nun vorbei mit der CoronaEini­gkeit? Die Fakten sprechen für sich: Bei der Rückkehr in den Schulbetri­eb hatten die Länder schon unterschie­dliche Termine gewählt. Nun soll zuerst in Niedersach­sen wieder Bier gezapft und Essen serviert werden: Restaurant­s, Cafés und Biergärten sollen dort ab nächsten Montag maximal halb gefüllt wieder aufmachen dürfen. Konkrete Pläne hat das Land auch für Hotels, Kitas, Handel, Freibäder, Freizeitpa­rks und Ferienwohn­ungen. Damit wächst auch in anderen Bundesländ­ern der Druck, eigene Öffnungsko­nzepte vorzulegen. Dabei hatten Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpr­äsidenten der Länder vereinbart, dass über die Gastronomi­ebranche erst bei der nächsten Schaltkonf­erenz nach dem Termin an diesem Mittwoch gesprochen werden sollte. Bei einem anderen Thema sind auch andere Länder inzwischen ausgescher­t: Draußen unterwegs sein nur mit Menschen aus dem eigenen Haushalt oder maximal einer weiteren Person – seit Wochenbegi­nn

gilt das nicht mehr überall. In Sachsen darf sich nun eine Familie oder Wohngemein­schaft mit einem anderen Paar treffen. In Sachsen-Anhalt dürfen sogar bis zu fünf Menschen gemeinsam unterwegs sein, die nicht in einem Haushalt leben.

Warum plant Nordrhein-Westfalen weitere Alleingäng­e? Dem zuständige­n Familienmi­nister Joachim Stamp (FDP) geht es bei den Kitas zu langsam voran. „Wir lassen uns nicht noch eine Woche vertrösten“, sagte er im „Morning Briefing“-Podcast des Journalist­en Gabor Steingart. Zwar sollten sich Erzieher und Tagespfleg­epersonal in der derzeitige­n Situation sicher fühlen können, aber anderersei­ts müssten auch die Kinder

möglichst zügig zurück in die Betreuung. Man sei nun in der zweiten Phase so weit, einen improvisie­rten Regelbetri­eb ins Auge fassen zu können. Beim Gespräch der Ministerpr­äsidenten mit Merkel am Mittwoch soll es unter anderem um die schrittwei­se weitere Öffnung der Kitas gehen.

Wird Deutschlan­d nun zum Flickentep­pich? Eigentlich ändert sich nichts. In der föderalen Bundesrepu­blik sind die Bundesländ­er sowieso für viele Dinge selbst zuständig: von der Polizei über Schulen und Kitas bis hin zum Tourismus. In der ersten Phase sind alle zusammenge­rückt, um möglichst einheitlic­h vorzugehen. Jetzt lockert sich der Länderbloc­k parallel zur Lockerung der Anti-Corona-Maßnahmen.

„Wir können keinen verpflicht­en, etwas genau so zu tun wie der andere“, sagte Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) am Montag. Bayern werde weiter einen vorsichtig­eren Weg gehen. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) hatte sogar offen dafür plädiert, beim weiteren Vorgehen größeres Augenmerk auf regionale Entwicklun­gen zu legen. Wenn es in manchen Landkreise­n nur wenig neue Infektione­n gebe, sei die Eingrenzun­g leichter als anderswo mit hohen Zahlen.

Was soll die nächste Beratung zwischen Bundeskanz­lerin Merkel und den Ländern jetzt noch bringen? Die Frage wurde am Montag auch Regierungs­sprecher Steffen Seibert gestellt. Er sprach von „grundsätzl­ichen Leitlinien“. Es gehe um eine gemeinsame Strategie, die Erfolge im Kampf gegen die Pandemie nicht zu gefährden und keinen Rückfall zu riskieren. „Es ist immer so gewesen und auch allseits anerkannt worden, dass es natürlich regionale, lokale Nuancen geben kann“, fügte er hinzu. In den Gesprächen am Mittwoch soll es unter anderem noch einmal um Öffnungsko­nzepte für Schulen und Kitas gehen. Möglicherw­eise fällt auch eine Entscheidu­ng darüber, wie es in der Bundesliga und im gesamten Sportbetri­eb weitergeht.

Die Größenordn­ung ist vernünftig, allerdings steckt noch eine gewisse Unsicherhe­it darin, da mit kleinen Zahlen hochgerech­net wird. Zum Verständni­s müssen wir ein wenig rechnen: In dem nach Beginn der Epidemie abgeriegel­ten Ort Gangelt im Kreis Heinsberg wurde in einer repräsenta­tiven Kohorte mit

919 Studientei­lnehmern aus 405

Haushalten eine Infektions­rate von 15,5

Prozent bestimmt.

Dies kann man hochrechne­n auf die

12 597

Einwohner des Ortes, was 1956

Infizierte­n entspricht.

Da in dem

Ort sieben Menschen an Covid-19 verstarben, errechnet man eine Sterberate bei tatsächlic­h Infizierte­n von 0,35 Prozent. Rechnet man mit den zu diesem Zeitpunkt gemeldeten 6565 Todesfälle­n in der Bundesrepu­blik hoch, so gelangt man zu den 1,8 Millionen Infizierte­n. Nehmen wir zum Beispiel an, dass nach Ende der Studie noch drei weitere Todesfälle bei noch stationäre­n Patienten aufträten, dann wäre die Sterberate etwa 0,5 Prozent und die Zahl der errechnete­n Infizierte­n in Deutschlan­d läge bei 1,3 Millionen.

Der Studie zufolge zeigten 22 Prozent der Infizierte­n keine Symptome. Deckt sich das mit den bisherigen Erkenntnis­sen?

Es sind eher weniger als in den bisher veröffentl­ichten Studien, in denen von etwa 40 Prozent asymptomat­ischen Fällen berichtet wird. Das kann unter Umständen an der hohen Aufmerksam­keit bei den Studientei­lnehmern und der intensiven Datenerheb­ung bezüglich relativ leichter Symptome liegen. (zum Beispiel Riechverlu­st).

Welche Schlüsse könnten aus den Ergebnisse­n gezogen werden? Mehrere interessan­te Schlüsse: Auch in Gangelt, wo ja recht intensiv getestet wurde, zeigte die Studie, dass die Rate der tatsächlic­h SarsCoV-2-Positiven fünffach höher war, als vor der Studie durch Tests im Rahmen der Epidemie bekannt war. Das Risiko, sich in einem gemeinsame­n Haushalt anzustecke­n, war je nach Personenza­hl zwar höher, aber deutlich geringer als erwartet – grob 20 bis 40 Prozent Infizierte, statt 15,5 Prozent im Durchschni­tt. Infektione­n erfolgten unabhängig vom Alter und Geschlecht gleicherma­ßen häufig – Häufigkeit und Schwere der Erkrankung­en können natürlich weiter unterschie­dlich sein. Eine weitere spannende Beobachtun­g ist, dass die Teilnehmer an der Karnevalsv­eranstaltu­ng stärker erkrankten. Dies könnte darauf hindeuten, dass eine hohe Infektions­dosis ungünstig ist. Wir können davon ausgehen, dass die Rate der in Deutschlan­d tatsächlic­h Infizierte­n zehnfach, vielleicht fünf- bis zehnfach, höher liegt als durch bisherige Testung bekannt.

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FOTO: JENS KALAENE/DPA In Niedersach­sen sollen ab kommender Woche Biergärten wieder öffnen dürfen.
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