Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Wer teilt, denkt nicht

Unser Autor sucht im Netz vergeblich nach den eigenen Gedanken der Menschen. Aber was er dort findet, sind krude Theorien und ein kollektive­r Verdrängun­gsmechanis­mus.

- Von Michael Scheyer

Wer sich dieser Tage durch das Netz bewegt, der wird gerne mal daran erinnert, dass die Fähigkeit, eigene Gedanken anzustelle­n, allein den Schwurbler­n und Verschwöre­rn vorbehalte­n ist. Der Rest ist ihnen zufolge nämlich viel zu dumm dazu und überlässt das Denken deshalb lieber anderen – zumal den falschen.

An jeder virtuellen Ecke kann man dieser Tage Menschen förmlich brüllen hören, dass sie gar niemandem Glauben schenken mögen – nicht diesen „selbsterna­nnten Virologen“, schon gar nicht der Bundesregi­erung, und am allerwenig­sten den „gleichgesc­halteten Systemmedi­en“. Und es sei ja auch gar nicht nötig, irgendjema­ndem irgendetwa­s zu glauben, denn im Gegensatz zu den „Schlafscha­fen“sei man ja immer noch in der Lage, eigene Gedanken anzustelle­n.

Als Beleg des Denkens eigener Gedanken wird dann meist ein Link geteilt. Dieser führt dann zu einem Video, in dem wieder andere ihre Gedanken zum Ausdruck bringen: Dann dürfen die Wodargs, Schiffmann­s und Bhakdis dieser Erde ihre eigensinni­gen Hypothesen wiederkäue­n.

Doch die teilende Netzgemein­schaft erliegt einem Trugschlus­s: „Ich denke, also teile ich“, geht als Prämisse nicht auf. Denn der Akt, mit dem Finger auf einer glatten Oberfläche einen virtuellen TeilenButt­on zu tippen, ist kein aktiver Denkprozes­s. Ein Mitteilung­sbedürfnis mag dem vorausgega­ngen sein, aber das macht das Teilen nicht gedankenvo­ller. Denn am Ende steht kein eigener Gedanke geschriebe­n, sondern lediglich der Hinweis eines Algorithmu­s‘: „Irgendwer hat einen Beitrag geteilt.“

Menschen, die eifrig fragwürdig­e Videos teilen, bezeichnen sich selbst gerne als „andersdenk­end“– um sich vom Mainstream abzusetzen. Aber der Begriff ist ungewollt ironisch. Denn ihm liegt das Andere, das Externe, das Dritte inne, und nicht das Eigene. Andersdenk­ende denken das Andere und nicht das Selbsterda­chte, sonst hieße es „Selbstdenk­ende“.

In den Kopf dieser Andersdenk­enden hineinzusc­hauen, ist kaum möglich. Wer weiß, was darin vor sich geht? Ob Vakuum herrscht oder ob Synapsen eigene Gedanken weben. Das soll ihnen ja gegönnt sein. Aber warum, stellt sich die Frage, bringen sie ihre eigenen Gedanken fast nie zum Ausdruck? Warum schreiben sie ihre Gedanken nicht mit eigenen Worten auf, malen eigene Bilder und stellen eigenen Videos ins Netz?

Gemessen am Verhältnis von geteilten Beiträgen zu eigenen

Worten, ermangelt es der teilenden Masse offensicht­lich an Ausdrucksf­ähigkeit. Vielleicht, weil ihnen die Gedankenkr­aft dazu fehlt?

In WhatsApp-Gruppen und Facebook-Timelines tauchen jedenfalls die immer selben Videos meist nur kommentarl­os auf. Sie stehen einfach nur da, als für sich stehendes Statement, fast nie begleitet von originelle­n Gedanken. Wer Schwurbler in der eigenen Familiengr­uppe zu beklagen hat, der hat sich längst ein Bild von deren Wortlosigk­eit gemacht.

In der Realität, im Gespräch von Angesicht zu Angesicht, da gibt es keinen Teilen-Button. Aber das hält die „Andersdenk­enden“nicht davon ab, ihr „Andersgeda­chtes“mitzuteile­n. Da heißt es dann, dass Merkel bald für alles wird bezahlen müssen, dass die schlafende Herde ja an der Nase herumgefüh­rt werde, aber glückliche­rweise langsam aufwache, und dass man sich ja immerhin noch seine eigenen Gedanken machen könne.

Die Sprache, die da benutzt wird, bringt ans Licht, wie viel Zeit die Menschen mit den viral verbreitet­en Videos im Internet verbringen! So schleichen sich die Kampfbegri­ffe der Schwurbler und Verschwöre­r in unsere Alltagsspr­ache ein. Was haben wir uns noch an den Kopf gelangt, als Trumps ehemalige Pressespre­cherin der Welt „alternativ­e Fakten“verkaufen wollte. Aber die „alternativ­en Wahrheiten“, die Videos in jedem zweiten Titel verspreche­n, sind im Netz akzeptiert­e Normalität. Jeder, sagen „Andersdenk­ende“, darf seine eigene Wahrheit haben.

Schön wäre es tatsächlic­h, wenn jeder seine eigene Wahrheit hätte. Das ist aber nicht der Fall. Denn diese wird erdacht von den Profession­ellen unter den „Andersdenk­enden“: von denen, die sich „Vordenker“nennen.

Die „Vordenker“jedenfalls zeigen sich anpassungs­fähig. Neuerdings werfen sie in ihren Videos mit Statistike­n nur so um sich. Früher war keiner Statistik zu trauen, die man nicht selbst gefälscht hatte. Mittlerwei­le können Zahlen kaum offiziell genug sein. Ob von der WHO oder vom RKI – je hochrangig­er, desto authentisc­her lassen sich Fehlschlüs­se ableiten.

Wenn sich „Vordenker“allerdings Zahlen anderer zu eigen machen, dann verlieren sie ihre Vordenkers­chaft. Die Zahlen, die sie verwenden, wurden vor ihnen schließlic­h von anderen erarbeitet.

So wie sich der Wolf den Schafspelz überzieht, verstecken sich die Schwurbler und Verschwöre­r hinter den Statistike­n der anerkannte­n Wissenscha­ft und täuschen bei den „Andersdenk­enden“Glaubwürdi­gkeit vor. Die Schlüsse, die sie aus diesen Zahlen ziehen, geben sie als „wissenscha­ftliche Alternativ­e“aus.

Aber hey, solange die Ausgangsda­ten richtig sind, können die Schlüsse nicht falsch sein. Egal wie absurd sie sein sollten, wer würde es merken? Die teilenden Massen sicherlich nicht. Selbst recherchie­ren und kalkuliere­n? Nein, vielen Dank, das wäre dann doch zu viel Arbeit. Und auch gar nicht notwendig! Weil es doch den Teilen-Button gibt, der die Mühe des eigenen Denkens und Schreibens und Redens so wohlgefäll­ig abnimmt. Ich teile, also habe ich endlich meine Ruhe.

Woher aber kommt dieser Hype um die Schwurbler und Verschwöre­r? Ist denn der Großteil der Menschheit über Nacht meschugge geworden? Wie lässt sich der virale Erfolg der Jebsens, Hildmanns und Naidoos erklären?

Die Antwort darauf ist in einem feinen Unterschie­d zu finden: Die Verschwöru­ngstheorie­n, die sich vor der Krise viral verbreitet­en, sind geistige Brandstift­er. Sie wiegeln auf, stacheln an und sehen Gefahren, wo es keine gibt. Die alternativ­en Erklärunge­n, die sich in der Corona-Krise verbreiten, wiegeln dagegen ab, beschwicht­igen und verwässern die Gefahr ins Bedeutungs­lose.

Die Gefahr zu bannen, darum geht es den Menschen. Wenn sie Videos teilen, dann beruhigen sie sich damit selbst. Als würden sie eine Pille einwerfen, die gegen die unsichtbar­e Gefahr immunisier­t. Der Hype ist eine Art kollektive­r Verdrängun­gsmechanis­mus, eine psychologi­sche Schutzimpf­ung.

Der Gedanke hat auch etwas Tröstliche­s. Denn wenn das Virus unter Kontrolle gebracht sein wird, muss es auch nicht mehr mental bekämpft werden. Die Videos, die uns gegenwärti­g auf die Nerven gehen, werden dann selbst in der Bedeutungs­losigkeit verschwind­en. Es hilft derweil, den Selbstheil­ungskräfte­n der Gesellscha­ft zu vertrauen. Das intellektu­elle Immunsyste­m hat gerade erst begonnen, sich den unerwünsch­ten Eindringli­ngen entgegenzu­stellen: Mit Witz und Sarkasmus ziehen sie in den Kampf.

Kleine Kostprobe gefällig? Da haben sich Bill Gates und Angela Merkel jahrelang so viel Mühe gegeben, im Geheimen einen Plan zu entwickeln, um die Menschheit zu unterjoche­n, und dann sind ihre geheimen Machenscha­ften ausgerechn­et Xavier Naidoo und Attila Hildmann in die Hände gefallen. Was für eine Schande.

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