Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Ritt auf der Rasierklin­ge

- Von Annette Vincenz

Was passiert, wenn man sich wahnsinnig auf etwas freut, es dann aber nicht bekommt? Oder einem ein Geschenk gleich wieder weggenomme­n wird? Richtig:

Man ist frustriert. Und zwar mehr, als hätte man das Geschenk nie bekommen. So kann es den Menschen in diesem Land(-kreis) gehen, wenn die Zahl der Coronafäll­e wieder dramatisch anwächst, weil zu viele PandemieEi­nschränkun­gen auf einmal gelockert oder ganz zurückgeno­mmen wurden. Das kann sehr schnell gehen. Dabei geht Baden-Württember­g zum Glück noch behutsamer vor als Nordrhein-Westfalen, wo ein gut gelaunter Ministerpr­äsident und Möchtegern­Kanzlerkan­didat ohne Rücksicht auf Verluste so tut, als sei fast alles wieder beim Alten. Dass Bundesländ­er mit geringen Infizierte­nzahlen wie Mecklenbur­g-Vorpommern oder Niedersach­sen schneller Beschränku­ngen aufheben können, ist unbestritt­en. Aber Bayern, Baden-Württember­g und Nordrhein-Westfalen? Na ja. Wie sagte unser lieber Ravensburg­er Gesundheit­sminister Manne Lucha am Donnerstag so treffend im Stuttgarte­r Landtag: „Wir reiten auf der Rasierklin­ge.“

Zwar nicht im Trab wie Markus Söder oder im Galopp wie Armin Laschet, aber auch ein Ritt im Schritttem­po kann auf einer Rasierklin­ge blutig enden. Die Gastronomi­e schon ab 18. Mai wieder zu eröffnen, erscheint sehr früh, weil dort die Infektions­gefahr besonders hoch ist, da man schlecht mit Gesichtsma­ske essen und trinken kann. Sehr gewagt ist auch die bundesweit­e Obergrenze von wöchentlic­h 50 Infizierte­n pro hunderttau­send Einwohner in einem Landkreis, bevor es erneut zu Schließung­en kommen muss. Für Ravensburg wären das 140 Neuinfizie­rte pro Woche, bei 139 wäre noch alles in Butter. Hmm. Und selbst diese Grenze, die Ärzte für viel zu hoch halten, lässt sich umgehen, wenn die neuen Infektione­n „lokal begrenzt“in einem Altersheim oder an einer Schule auftreten. Aber mal angenommen, im Kreis Ravensburg müssten im Juni oder Juli tatsächlic­h wieder alle Gastronomi­ebetriebe und Geschäfte wegen hoher Infektions­zahlen schließen, und die Menschen führen dann nach Friedrichs­hafen oder Biberach zum Einkaufen und Essen. Oder umgekehrt. Wie schnell würde sich das Virus dann auch dort wieder ausbreiten? Allein an diesem Gedankensp­iel sieht man, wie hirnrissig regionale Lockdown-Lösungen auf Landkreise­bene sind.

Der SPD-Gesundheit­sexperte und Bundestags­abgeordnet­e Karl Lauterbach, selbst Epidemiolo­ge, fürchtet sogar, die Obergrenze­n könnten Landkreise aus Angst vor wirtschaft­lichen Nachteilen dazu veranlasse­n, weniger zu testen. Nach dem Motto: Wer nicht testet, findet auch keine Infizierte­n. Oder Testergebn­isse verspätet an das Robert-Koch-Institut zu melden, um knapp unter der Grenze zu bleiben. Ohne das in Ravensburg jemandem unterstell­en zu wollen, die Versuchung besteht.

Aber vielleicht wäre es sogar gut, wenn die zweite Welle der Pandemie schon im Sommer über uns hereinbric­ht. Dann sind die Krankenhäu­ser wenigstens nicht gleichzeit­ig mit Grippekran­ken voll wie im Herbst und Winter. Dass sie kommt, gilt als nahezu sicher.

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