Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Rechter Rand als Motor der Corona-Proteste
Zentralrat der Juden warnt vor antisemitischen Motiven – BKA sieht Gefahr wie im Jahr 2015
BERLIN - Der Demonstrant trägt einen gelben Judenstern, darin geschrieben sind die Worte „Nicht geimpft“. Es sind Bilder wie dieses von einer Cottbuser Demonstration gegen die staatlichen Corona-Auflagen, die den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland erzürnen. „Gegen die derzeitigen Maßnahmen mit Symbolen zu demonstrieren, die an den Holocaust erinnern, ist geschmacklos und verhöhnt die Opfer der Schoa. Dessen sollten sich alle bewusst sein, die aus hehren Motiven mitmarschieren“, sagt Josef Schuster.
Er sieht seine wochenlangen Befürchtungen bestätigt: „Rechtsradikale nutzen die durch die CoronaKrise entstandenen Ängste, um antisemitische Verschwörungsmythen und ihr radikales Weltbild zu verbreiten – im Internet, aber auch auf sogenannten Hygiene-Demos“.
Seit Wochen demonstrieren Menschen gegen die Grundrechtseinschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus. War es anfangs ein buntes Häufchen auf dem Platz vor der Berliner Volksbühne, zählen die Behörden inzwischen Tausende in ganz Deutschland mit Schwerpunkt auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart. Hatte die Polizei die bisher größtenteils friedlichen Protestler bisher meist gewähren lassen, könnte sich das bald ändern. Denn oft wurden die coronabedingten Versammlungsund Hygieneauflagen von Demonstranten ignoriert. Bayern prüft deshalb, ob man die Demos nur noch außerhalb von Innenstädten zulassen soll, um Passanten zu schützen. „Der Rechtsstaat lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen“, sagte Staatskanzleiminister Florian Herrmann (CSU) am Dienstag in München. In Stuttgart bekannte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), er sei „hochgradig beunruhigt“über die Demos. Es müsse vermieden werden, dass diese zu „Infektions-Hotspots“würden, deshalb prüft auch Baden-Württemberg Konsequenzen.
Abstand ist das eine. Extremismus das andere. Nicht nur Schuster fürchtet, dass Rechte die Proteste kapern könnten. Auf den Berliner Demos traten einschlägige Szenemitglieder auf, in einigen Städten wurden die Versammlungen von der AfD angemeldet. Nicht nur Schuster fürchtet, dass die zelebrierte Ablehnung staatlicher „Repression“idealer Nährboden für rechte Narrative ist. Gideon Botsch leitet die Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Mendelssohn-Zentrum in Potsdam. Am Dienstag sitzt er in der Berliner Bundespressekonferenz, wo die rechtsextreme Gewalt in den vergangenen Monaten Thema ist. Es geht um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, den Angriff auf die Synagoge in Halle und den rassistischen Angriff in Hanau. Und dann um die Corona-Demos. Ist das nicht sehr weit hergeholt? Schließlich sehen die Proteste, bei denen Familien, Gastwirte, Esoteriker, Verschwörungstheoretiker und Künstler zusammenkommen, rechten Aufmärschen kein bisschen ähnlich.
Für Botsch nicht. „Antisemitismus kann ein entscheidender Trigger für terroristische Radikalisierung sein“, sagt er. Die Behauptung einer weltweiten Verschwörung der Eliten, die das Volk unterdrücken beziehungsweise austauschen wolle, sei seit 2014/2015 eine massiv verbreitete Erzählung von Rechtsextremen. Diesem Narrativ seien die Täter, von Kassel, Halle und Hanau gefolgt. Und auch andere wie der rechtsextreme Attentäter von Christchurch oder der Rechtsterrorist Anders Breivik.
Diese Verschwörungstheorie trete nun – bei aller Unterschiedlichkeit der Teilnehmer, die Botsch immer wieder herausstellt – auch bei den Anti-Corona-Protesten erneut auf. In den Warnungen vor Bill Gates, der WHO, dem „Merkel-Regime“und einer angeblichen Impflicht erkennt er die alten Erzählungen wieder. Inklusive der angeblichen (oft jüdischen) Eliten, die heimlich im Hintergrund die Fäden spinnen sollen. Botsch kommt zu einem beunruhigenden Ergebnis: „Die vermeintliche Widerstandsbewegung häutet sich“, sagt er. Und: „Der äußerst rechte Rand ist ein Akteur und Motor der Bewegung“.
Das Bundeskriminalamt (BKA) geht inzwischen ebenfalls davon aus, dass das rechte Spektrum die Proteste zu kapern versuche. Zwar gebe es weiter eine sehr dynamische Lage, die eine Beurteilung schwierig macht, sagte BKA-Chef Holger Münch am Montag. Doch warnte er vor ausufernden Protesten, sollte sich die Lage verschärfen. Dann sei eine ähnliche Eskalation wie in der Flüchtlingskrise denkbar. „Das Risiko, dass mit abnehmender Akzeptanz und mit dem Gefühl der Bedrohung, das war auch einer der Auslöser 2015/2016, eine solche Situation eintreten kann, das halte ich schon für realistisch“, sagte er.
Für den Präsidenten des Zentralrats der Juden ist nun jeder DemoTeilnehmer gefragt. Wer mitgehe, „muss sich bewusst machen, an wessen Seite er demonstriert und welche Aussagen dort verbreitet werden“, sagte er. Und ergänzte: „Mit Antisemiten und Rechtsradikalen darf man sich nicht gemein machen“.